Road Novel über ein Ausreißerpärchen: London sehen und frei sein
Eine Liebeserklärung an die Liebe, die Jugend, den Punk: „Sid Schlebrowskis kurzer Sommer der Anarchie“ von Klaus Bittermann.
Sid Schlebrowski und Nancy von Westphalen sind ein ungleiches Paar. Der eine, Sid, stammt aus proletarischem Haushalt. Er ist Sohn eines erfolglosen Boxers und einer Mutter, die bei der Intervention in ein innerfamiliäres Gefecht einen leichten Dachschaden davontrug. Zu seinem Vornamen kommt Sid, weil er auf die Sex Pistols abfährt. Sein bürgerlicher Name, Michael, ist so fad wie gewöhnlich.
Die andere, Nancy, stammt aus einer reichen Familie mit adligem Hintergrund, die nur in vornehmsten Kreisen verkehrt und in der sie selbst das schwarze Schaf ist: Nancy bekommt Tourette-Fluchanfälle, wenn sie wütend ist, und hat für die meisten Menschen in ihrer Umgebung nur Spott übrig.
Diese beiden Charaktere, 16 und 17 Jahre alt, bilden das charmante Ausreißerpärchen, dessen Geschichte der Berliner Verleger und Schriftsteller Klaus Bittermann in seinem neuen Roman erzählt. „Sid Schlebrowskis kurzer Sommer der Anarchie und seine Suche nach dem Glück“ heißt das Buch; darin cruist das junge Paar in geklauten Limousinen durch Norditalien, prellt die Zeche in Luxushotels und bestiehlt die Gäste beziehungsweise „expropriiert“ sie, wie sie es nennen. Während Nancy sich auf dem Trip mit Mode und Accessoires diverser Designerlabels eindeckt und Chic ausstrahlt, wirkt Sid orientierungslos und will vor allem weit weg von seinem Vater sein.
Natürlich spielt Bittermann in dieser mitreißenden Road Novel auf das berühmteste Pärchen der Punk-Ära – Sid Vicious und Nancy Spungen – an und schreibt eine erzählerische Tradition fort, die seit Bonnie und Clyde immer neue Variationen hervorgebracht hat.
Outsider-Roman und wundersame Liebesgeschichte
Dem Roman liegt eine 35 Jahre alte Zeitungsmeldung aus den Nürnberger Nachrichten zugrunde, die ihn fasziniert hat und die er seither sorgsam aufbewahrt hat, sagt Bittermann. „Im Südtiroler Sterzing ist ein Gaunerpärchen gefasst worden. Monatelang hatten die 16-jährige Nancy W. und ihr 17-jähriger Freund Michael S. von Hoteldiebstählen gelebt“, zitiert er sie im Buch. Aus diesem Ausschnitt und aus drei weiteren habe er dieses Buch geschaffen. Herausgekommen ist eine Mischung aus Outsider-Roman und lakonischem Rückblick auf diese Zeit – vor allem aber eine wundersame Liebesgeschichte.
Dramaturgisch ist das toll gemacht. Bittermanns auktorialer Erzähler überblickt das Geschehen mit fast olympischem Blick. Er begibt sich auf Stippvisiten in die Biografien der Nebenfiguren, denen Nancy und Sid auf ihrer Beutetour begegnen. Zum Beispiel Rolf und Carmen Maletzke, einem Pärchen aus dem Berliner Milljöh – er ein schillernder Edel-Lude, bisschen Rolf-Eden-like, sie Exprostituierte und dreißig Jahre jünger als er. Die beiden sind selbst auf der Flucht vor den Behörden – zu der richtigen Sprache für seine Figuren findet der Autor spielerisch leicht („Dieses Jegaffe jeht mir vielleicht uff die Ketten“).
Zeitungsmeldung
In einem weiteren ihrer temporären Domizile trifft Sid auf die Ringerin Sally Schumann, die ihr Geld damit verdient, in Hotelzimmern mit Männern in den Ring zu steigen. Auch reale Figuren wie Paul Simonon von The Clash tauchen auf oder werden in die Geschichte eingeflochten (Journalist und Autor Joseph von Westphalen). Mit Sids Schutzengel baut Bittermann zudem einen narrativen Kniff ein. Diese Instanz zwischen dem Erzähler und der Handlung wirkt wie ein plötzlich aus dem Off erscheinender Schicksalsspieler, der die Geschehnisse durch Eingriffe minimal lenkt.
Die Love Story zwischen Nancy und Sid beginnt eigentlich erst, als sie zu Ende ist. Sein Ziel – das Punk-Mekka London – soll das Duo nicht mehr erreichen, denn, so viel darf man verraten, ihm ergeht es nicht anders als den realen Vorbildern. Die Verhaftung bringt die beiden Drop-outs auseinander. Für Sid geht die Suche nach dem Glück nun erst los.
Reich an Anspielungen und Hommagen
Klaus Bittermann, Jahrgang 1952, schreibt auch für die taz und ist als Autor, Journalist, Blogger und Verleger sowieso eine Institution. In diesem Roman, der in der eigenen Edition Tiamat erscheint, bringt er viele seiner Stärken zusammen: Komik und trockenen Witz, erzählerisches Geschick, den Bezug zu historischen Anekdoten und eine latente Melancholie.
Die Angst kann sie jederzeit einholen. In der U-Bahn, am Schreibtisch, im Café. Wie unsere Autorin lernte, ihre Angst zu lieben, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 13./14. August 2016. Außerdem: Um Bio-Eier möglichst günstig zu produzieren, nutzen einige HalterInnen alle Grauzonen der EU-Richtlinien. Wie viel bio steckt im Öko-Ei? Und: Die Türkei zwischen "Säuberung" und Märtyrerverehrung. Pınar Öğünç über eine Gesellschaft, in der sich eine Hexenjagd-Atmosphäre einzurichten scheint. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Der Roman ist reich an Anspielungen und Hommagen; der Ort, an dem Sid nach einem Clash-Konzert in Bologna landet, heißt nicht umsonst „Caffè della gioventù perduta“. Der Ort referiert auf Patrick Modianos gleichnamigen Roman (dt.: „Im Café der verlorenen Jugend“) – man kann diese Spur weiterverfolgen und landet bei Guy Debord und der Lieblingsbar der Situationisten, Chez Moineau in Paris.
Beeindruckend ist der leichte Sound der Story, die mit dem Drive eines Alfa Romeo daherkommt und gleichzeitig nostalgisch ist wie der Anblick eines rostigen Fiat Uno. Die Erzählung ist eine Liebeserklärung an die Liebe, an die Jugend, an die Musik des Punk, an die Literatur, an die Mode: Nancy und Sid hätten es verdient, zu einem Sommerhit zu werden.
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