Riots in London: "Kein Polizist ist verurteilt worden"

In Croydon brannte alles, vom traditionsreichen Möbelgeschäft bis zum afrokaribischen Laden. Viele Anwohner erlebten die Riots als Krieg und Verbrechen.

Abgebranntes Möbelhaus in Croydon. Bild: dapd

LONDON taz | "Es ist wie im Weltkrieg", sagt George. Er ist höchstens 30. Er meint nicht die Zerstörung, die bei den Krawallen Anfang der Woche in Croydon, dem südlichen Londoner Vorort, angerichtet worden ist, sondern den Gemeinschaftsgeist als Reaktion darauf. "Als die Nazis 1940 Croydon in Schutt und Asche legten, hat die Bevölkerung mit Trotz reagiert und sich an die Aufräumarbeiten gemacht", sagt er. "Das machen wir jetzt auch."

George und eine Gruppe junger Männer und Frauen - Weiße, Schwarze und Asiaten - fegen das Glas vor dem afrokaribischen Lebensmittelladen Kandil auf der London Road zusammen. Das Pfandhaus nebenan ist vollständig ausgebrannt. Wegen der Einsturzgefahr ist die Straße an der Stelle abgesperrt. Hundert Meter weiter pumpt die Feuerwehr am Donnerstag noch immer Wasser in die Ruine eines Motorradladens und einer benachbarten Reinigung, um sicherzugehen, dass das Feuer in den Trümmern nicht weiterschwelt.

Die beiden Gebäude sind bei dem Brand eingestürzt und haben ein Buswartehäuschen unter sich begraben. Die 16 Menschen, die in den Wohnungen über den Geschäften lebten, sind rechtzeitig evakuiert worden. Sie haben auf den Bänken in einem Pub übernachtet. Das "Old Fox & Hound" ist mit ein paar zerbrochenen Scheiben davongekommen. Die Fenster sind mit Spanplatten gesichert. Der Eingang ist von der Polizei abgesperrt, ein Zettel weist darauf hin, dass man hinten durch den Garten ins Wirtshaus gelangt.

Die alte, aber frisch renovierte Kneipe ist recht groß, in den Alkoven stehen kleine Tische, ein Schild weist darauf hin, dass Leute in Arbeitskleidung oder mit Baseballkappen keinen Zutritt haben. Hinter der L-förmigen Theke zapft ein junger Mann mit kahlgeschorenem Kopf dünnes englisches Bier. Alan McCabe ist 28, ihm gehört der Laden. Er stammt aus dem irischen Cavan. "Die Krawallmacher kamen mit Lieferwagen", sagt er. "Es war sinnlose Brutalität, aber das Ganze war gut organisiert. Jeder Einzelne von denen war IC3." Das ist der Begriff, den die Polizei für den schwarzen Bevölkerungsteil benutzt.

"Von den Politikern ist wohl kaum etwas zu erwarten", sagt McCabe und zeigt auf einen der sieben Fernseher in seinem Pub. Es läuft ein Interview mit Ken Livingstone, dem früheren Labour-Bürgermeister von London, der den Posten bei den Wahlen im nächsten Jahr zurückerobern will. Als in den achtziger Jahren die Fabriken schlossen, verschwanden auch die Jobs für die Arbeiterkinder, die keine akademische Ausbildung hatten, sagt Livingstone. "Sie fühlen sich nirgendwo mehr zugehörig", fügt er hinzu. "Das ist der Punkt, an dem wir ansetzen müssen."

Noch zu früh für Ursachenforschung

Livingstone war am Dienstag in Croydon, dem Tag nach den Krawallen. Londons Bürgermeister Boris Johnson und Premierminister David Cameron waren ebenfalls gekommen. Beide setzen auf die Polizei und die Gerichte, um die Lage unter Kontrolle zu bringen. In Nordirland stehen Wasserwerfer breit, die binnen 24 Stunden nach London geschafft werden können, sagte Cameron. Außerdem genehmigte er den Einsatz von Plastikgeschossen. Seit Donnerstag arbeiten die Gerichte im Akkord, um die Verfahren gegen die rund tausend Menschen, die im Zuge der Krawalle festgenommen wurden, zu eröffnen. Manche sind nicht älter als 14.

Mike Fisher, der Tory-Chef des Stadtrats von Croydon, forderte sogar den Einsatz der Armee. "Ich bin angewidert von der sinnlosen Zerstörungswut dieser kriminellen Elemente", sagte er. "Das sind ganz einfach Verbrechen von geistlosen Schurken, die es akzeptabel finden, Eigentum zu zerstören und Leute zu bestehlen."

Für Ursachenforschung sei es für die Politiker noch zu früh, glaubt Joe. Er ist etwa 40 und steht vor einem Club für den schwarzen Bevölkerungsteil, der von der Polizei geschlossen werden soll. "Wer jetzt nach Erklärungen sucht, wird verdächtigt, dass er die Krawalle entschuldigt", sagt er. "Natürlich waren das Taten von Verbrechern. Aber durch ihre Aktionen sind die legitimen Forderungen und Probleme der ethnischen Minderheiten in den Hintergrund gedrängt worden."

Joe führt das Beispiel von Smiley Culture an, einem recht bekannten britischen Reggae-Sänger, der im März wegen Kokainhandels vor Gericht gestellt werden sollte. Sechs Tage davor durchsuchte die Polizei seine Wohnung in der Nähe von Croydon. Während der Razzia starb Smiley Culture an einem Messerstich ins Herz. Er habe sich die tödliche Verletzung selbst beigebracht, behauptet die Polizei. "Fünf Monate sind vergangen", sagt Joe, "und die Untersuchung hat bislang nichts ergeben." Sie werde auch nichts ergeben, glaubt Joe. "Seit Ende der neunziger Jahre sind 333 Menschen in Polizeihaft gestorben, die meisten davon Schwarze", sagt er. "Kein einziger Polizist ist verurteilt worden."

Harry White, der seinen richtigen Namen nicht verraten will, stimmt Joe zu. White ist 25, er ist weiß, und er sympathisiert mit der Socialist Workers Party. "Das Schikanieren von schwarzen und asiatischen Jugendlichen gehört für die Polizei zum Alltag", sagt er. "Schwarze werden 26-mal häufiger auf der Straße angehalten und durchsucht als Weiße." Die Anarchie der Finanzmärkte sei viel zerstörerischer als die angebliche Anarchie der letzten Tage auf den Straßen, findet er. "Die Bankiers und Unternehmer mit ihren riesigen Bonuszahlungen haben sich viel effektiver bereichert, als die Plünderer."

"Business as usual" bei den Banken

Die Banken und Filialen der multinationalen Ladenketten am oberen Ende der London Road sind bei den Unruhen ungeschoren davongekommen. Es herrscht "business as usual", die Fußgängerzone ist voller Menschen, die Straßencafés sind an diesem sonnigen Tag gut gefüllt. "Die Polizei hat die noble Einkaufsmeile Montagnacht hermetisch abgeriegelt", sagt Mick, der bei Reeves Corner wohnt, dem "besseren Ende von Croydon", wie er sagt: "Deshalb verwüsteten die Plünderer den unteren Teil der London Road mit den kleinen asiatischen und afrikanischen Läden", meint der hagere 50-Jährige mit Dreitagebart. Danach zogen die Plünderer weiter zu Reeves Corner. Der Platz ist nach dem Möbelgeschäft benannt, dass dort seit 1867 stand - bis Montagnacht.

Das Gebäude, in dem Sofas verkauft wurden, ist nur noch eine Schutthalde, die Straßenbahn, die daran vorbeiführt, hat den Betrieb vorerst eingestellt. Am Mittwoch ist ein 21-Jähriger, der das Feuer gelegt haben soll, verhaftet worden. Das Nachbarhaus mit der Bettenabteilung hat bis auf gebrochenes Glas keine Schäden. Im Fenster hängt noch ein rotes Schild, das die Sonderangebote anpreist.

Maurice Reeves, der 80-jährige Eigentümer, steht vor den Trümmern. Er trägt einen blauen Anzug, sein weißer Haarkranz reicht bis auf die Schultern. "Wir haben den Ersten und den Zweiten Weltkrieg überstanden", sagt er, "aber nun waren es Menschen aus Croydon, wie es scheint, die uns zerstört haben. Ich verstehe es nicht." Er feierte seinen Hochzeitstag, als er sein brennendes Möbelhaus im Fernsehen sah. "Die Politiker müssen tief in sich gehen und Fragen beantworten", sagt er.

Sein 55-jähriger Sohn Trevor, der seinem Vater trotz des Altersunterschieds wie ein Zwillingsbruder gleicht und mit seinem Bruder Graham das Geschäft führt, sagt, dass eine Reihe von Kunden, die ihre Sofas bereits bezahlt haben, aber sie nun nicht mehr geliefert bekommen, auf die Erstattung des Geldes verzichtet haben: "Mit Hilfe dieser Solidarität werden wir unser Geschäft wieder aufbauen. Wir sind Kämpfer."

Große Angst

Mick, der schräg gegenüber neben der Gemeindekirche von Croydon wohnt, sagt, er habe in jener Nacht große Angst gehabt: "Vor dem Möbelladen standen 60 Jugendliche, auf der Straße vor unserem Haus 40 weitere, und acht sind in unseren Vorgarten eingedrungen. Reeves brannte lichterloh, und an der Ecke stand ein Bus in Flammen." Viel später rückte die Polizei an und evakuierte ihn und seine Nachbarn, weil die Gefahr bestand, dass die große Buche vor dem Möbelladen Feuer fing und auf die Reihenhäuser fiel.

Mick hofft, dass man den mutmaßlichen Brandstifter mit Hilfe der Aufnahmen aus der Überwachungskamera hoch oben an Reeves Bettenhaus überführen kann. "Man muss ein Exempel statuieren", sagt er. "Die Randalierer und Plünderer gehören für fünf bis zehn Jahre hinter Gitter. Dann werden es sich die anderen überlegen, ob sie so etwas noch mal tun."

Für die Politiker hat er nichts übrig: "Die haben doch alle gewartet, bis David Cameron am Montag endlich aus dem Urlaub zurückkam. Und dann erklärte er, dass es bei den Kürzungen bei der Polizei bleibt." Margaret Thatcher habe ebenfalls den Haushalt sehr stark gekürzt, sagt er. "Aber wenigstens hat sie gleichzeitig die Anzahl der Polizisten erhöht, weil sie mit Unruhen rechnete."

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