Ringen um Olympia: Kommando Luckenwalde
In der Ringerhochburg im Süden von Berlin erwarten sie mit sorgenvoller Spannung die Entscheidung des IOC, ob Ringen olympisch bleibt.
LUCKENWALDE taz | Gegenüber vom „Bade- und Saunaparadies“, wie die Fläming-Therme in Luckenwalde heißt, fühlt sich der 15-jährige Sebastian Nehls am wohlsten. Dort, im schmucklosen Backsteingebäude, steht Sebastian täglich auf der Matte, schweißüberströmt wie seine Mitstreiter, mit denen er hautnah, Körper an Körper, seine Kräfte misst. „So machen es auch die Naturvölker, die Kirgisen und Usbeken. Mann gegen Mann. Die spielen kein Squash“, sagt Reinhard Mehlhorn.
Der 64-Jährige leitet ehrenamtlich die Geschäftsstelle am Bundesstützpunkt Ringen und wurde wie Sebastian schon als Jugendlicher in der brandenburgischen Kleinstadt zum Ringer ausgebildet. Er ist in Luckenwalde geblieben. Auch Sebastian würde hier gern Wurzeln schlagen. Seine Eltern wohnen in Rostock. Er belegt seit drei Jahren schon einen der 25 Internatsplätze in der Sportschule. „Ich möchte nach dem Abitur bleiben und für das Bundesligateam ringen. Ich habe alle meine Freunde hier“, erklärt er.
Die Tradition wird unter den Luckenwalder Ringern hochgehalten. Anrührend altbacken wirkt hier das Benehmen der hart trainierenden Jungathleten. Von nahezu allen Kindern wird man per Handschlag begrüßt. In den Gängen des Bundesstützpunkts hängen die großen Vorbilder aus. Die Ahnengalerie der erfolgreichen Lokalmatadoren soll den Jungen Ansporn sein, erklärt Mehlhorn. Das Spaßbad gegenüber ist für andere da. Den Alten nacheifern, so wie es diese anno dazumal auch gemacht haben – das ist das Luckenwalder Leitmotiv.
Sebastian Nehls ist beseelt davon. Auch er träumt von einer Teilnahme an den Olympischen Spielen. Wobei man wieder bei den Kirgisen und Usbeken wäre, die kein Squash spielen. Denn dem Luckenwalder Ringerkosmos droht der Verlust seines Leitsterns. In wenigen Tagen könnte auf der Generalversammlung des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) in Buenos Aires Sebastians Traum enden.
Nachdem im Februar das IOC-Exekutivkomitee zur allgemeinen Überraschung die Empfehlung aussprach, das Ringen 2020 aus dem olympischen Programm zu streichen, hat die traditionsreiche Sportart nun eine Art zweite Chance erhalten und kämpft im Wettstreit mit Squash und Baseball um den letzten freien Platz.
Brandenburger Naturvolk
Anfangs war die Aufregung in Luckenwalde groß. Die Bürgermeisterin Elisabeth Herzog von der Heide (SPD) zeigte sich fassungslos über den Angriff auf die „olympische Königsdisziplin“. Und der Landtagsabgeordnete Danny Eckermann (CDU), nebenbei auch noch Präsident des Ringerverbands Brandenburg, unterstützte auf der Straße eine Unterschriftenkampagne, die sich gegen die IOC-Empfehlung wandte.
Für jedes Bürgerautogramm gab er eine Erbsensuppe aus. Er hätte auch ohne die warme Mahlzeit Erfolg gehabt. In der Bevölkerung sei die Verbundenheit mit den Ringern grundsätzlich groß, erzählt Reinhard Mehlhorn. Selbst in Arztpraxen der Stadt lagen die Listen der Unterschriftenkampagne aus. Wenn man so will, sind die Luckenwalder auch so ein Naturvolk wie die Kirgisen und Usbeken. Mehlhorn glaubt, dass in der Stadt nahezu alle über eine gewisse Praxiserfahrung verfügen: „Hier hat schon fast jeder einmal in den Ring geschnuppert.“
Mittlerweile hat sich die allgemeine Erregung gelegt. Nicht nur in Luckenwalde, sondern auch in Schifferstadt und Köllerbach und in den sonstigen Ringerhochburgen Deutschlands. Auf internationaler Ebene hat die Ringergemeinde Unterstützung von ganz anderem Kaliber erhalten. Barack Obama, Wladimir Putin und Mahmud Ahmadinedschad, die Staatschefs der USA, Russlands und des Irans, wandten sich lautstark gegen den IOC-Angriff auf die Traditionssportart. Eine illustre Allianz. In New York kam es im Mai zu einem Showwettkampf zwischen den drei Nationen.
Unterdessen reformierte sich der Internationale Ringerverband im Eiltempo. Der alte Chef, der Schweizer Raphael Martinetti, wurde wegen seiner mangelnden Lobbyarbeit als Hauptschuldiger ausgemacht und geschasst. Der neue Präsident, der Serbe Nenad Lalović, einte die Protestbewegung der Ringergemeinde und führte neue Regeln ein.
Der Nachwuchs in Luckenwalde wird schon entsprechend trainiert. Regeländerungen hat es des Öfteren gegeben. Gut gemeint seien diese stets gewesen, sagt Reinhard Mehlhorn, aber sie hätten in die entgegengesetzte Richtung gewirkt. „Zuletzt war unser Ringen ja fast nur noch wie Sumo-Ringen. Immer nur dieses Rausgeschiebe.“ Die Regeln hätten selbst die Experten nicht immer komplett verstanden.
Die nun eingeführten Änderungen zwingen die Ringer zu größerer Aktivität. Statt drei Runden (dreimal 2 Minuten) werden nur noch zwei gekämpft (zweimal 3). Es entscheidet nicht mehr die Anzahl der gewonnen Runden, sondern nur noch die Punkte. Techniken werden höher bewertet, Passivität früher bestraft und schnelle frühe Punktserien honoriert – wer 7:0 in Führung geht, hat bereits gewonnen.
Der Schock wirkt nach
Am Anfang sei das mit der Umstellung komisch gewesen, sagt Sebastian Nehls, der 15-Jährige, und meint: „Es ist konditionell anstrengender, aber besser.“ Die Regeln sind neu, das Pensum bleibt das Gleiche. Morgens ringt er im Rahmen des Unterrichts der Sportschule und abends dann, wenn der Sauerstoff in der Halle fast aufgebraucht zu sein scheint, oft zusammen mit den Athleten, die dem Bundesligateam des 1. Luckenwalder Sportclubs angehören.
Dass sich daran etwas ändern könnte durch die IOC-Entscheidung in Buenos Aires, glaubt Sebastian nicht. „Ich kann mir das nicht vorstellen. Ringen gehört doch einfach dazu.“ Für den Standort Luckenwalde würde ein Ausschluss aus dem olympischen Programm fatale Folgen haben. Der Bundesstützpunkt würde eingestellt werden, die beiden hauptamtlichen Trainer arbeitslos, die Friedrich-Ludwig-Jahn-Oberschule den Status als Eliteschule verlieren, die Nachwuchsarbeit würde stark eingeschränkt und so auch das Bundesligateam gefährdet werden.
Aber Geschäftsstellenleiter Mehlhorn ist optimistisch, dass es nicht so weit kommt. „Wir sind mit unseren Reformen auf dem richtigen Weg. Hoffentlich sehen das die hohen Herrn auch so.“ Eine gewisse Unsicherheit bleibt jedoch. Der Schock über die IOC-Empfehlung wirkt immer noch nach. Mehlhorn schimpft: „Ich fange doch eigentlich an, oben etwas wegzuschneiden und nicht unten.“
Funktionäre wie Gutsherren
Der frühere Junioreneuropameister Menzel warnt davor, sich nun auf den in Angriff genommenen Reformen auszuruhen. Es gehe nicht nur um die Regeln, erläutert er, die Funktionäre müssten sich ebenfalls ändern – auch in Deutschland. Die Öffentlichkeitsarbeit sei schlecht, unbequeme Athleten würden links liegen gelassen. „Die Funktionäre führen sich teilweise wie Gutsherren auf, bei denen man sich bedanken muss, dass man ringen darf. Dabei ist es ihre Aufgabe, die Ringer zu fördern.“
Den Kindern in Luckenwalde, die sich im Training so quälen würden, dürfe ihr Traum nicht genommen werden, appelliert Menzel. Er selbst hat hier wie einst sein Vater an der Sportschule mit 25 Mitstreitern seine Ringerkarriere begonnen. Der Belastung konnte kaum einer stand halten. In der Abiturklasse gab es nur noch zwei Ringer. Menzel war einer davon. Wenn es der IOC denn will, wird der junge Sebastian Nehls es womöglich auch schaffen und eines Tages gar bei den Olympischen Spielen den Ring betreten.
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