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Richtersegen für Lex Stendal

Verfassungsgericht hat nichts gegen die Festlegung von Verkehrstrassen per Gesetz. Klageweg der Bürger fällt dabei allerdings weg  ■ Aus Karlsruhe Christian Rath

Der Zweck heiligt mal wieder die Mittel. Um dem Aufbau Ost nicht im Wege zu stehen, segnete gestern das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) den umstrittenen Neubau einer Bahnstrecke bei Stendal ab. Das Besondere dabei: Die Trassenführung war per Gesetz festgelegt worden, um das Verfahren ohne lästige Bürgerklagen über die Bühne zu bringen. Eine Normenkontrollklage des Landes Hessen gegen das Lex Stendal wurde abgelehnt, eine Verfassungsbeschwerde der Stadt Stendal erst gar nicht zur Entscheidung angenommen.

Ausgerechnet der damalige Umweltminister Klaus Töpfer hatte die Idee: Der Ausbau der wichtigsten Verkehrswege in den neuen Bundesländern solle per Maßnahmegesetz erfolgen. Statt langwieriger Verfahren mit Planfeststellung inklusive Bürgerbeteiligung und anschließenden Gerichtsverfahren sollte die Trassenführung einfach vom Bundestag per Gesetz festgelegt werden. Die Zeitdauer vom Planungsbeginn bis zum ersten Spatenstich sollte so von mehreren Jahren auf rund sieben Monate verkürzt werden. Nur so könne ein drohender „Verkehrsinfarkt“ in den neuen Bundesländern verhindert werden.

Das Zusammenbruchsszenario war nicht zuletzt mit Blick auf das BVerfG skizziert worden. Im Jahr 1968 hatte Karlsruhe nämlich noch entschieden, daß die Enteignung per Gesetz wegen des Wegfalls des Rechtswegs nur in Ausnahmesituationen möglich sei. Konkret ging es damals um die Verbesserung des Hochwasserschutzes nach der Hamburger Sturmflut von 1962.

Aus einer Liste von 17 „Verkehrsprojekten Deutsche Einheit“ wurden schließlich aber nur zwei Teilstrecken per Maßnahmegesetz geplant: die Südumfahrung Stendal, die zur ICE-Trasse Berlin — Hannover gehört, sowie die West- Ost-Umgehung Wismar im Rahmen des Neubaus der Ostseeautobahn. Für die anderen Projekte wurde das inzwischen erheblich verkürzte „normale“ Planungsrecht benutzt (siehe Kasten).

Daß mit Verfassungsklagen zu rechnen war, wußte die Bundesregierung. Vor allem das rot-grün regierte Land Hessen war denn auch über die völlige Beschneidung der gerichtlichen Überprüfung von Großplanungen erzürnt und erhob eine Normenkontrollklage gegen die im Oktober 1993 als Pilotprojekt verabschiedete Lex Stendal. Als Alternative verwies man allerdings auf das nicht minder umstrittene „Verkehrswegeplanungs-Beschleunigungsgesetz“.

Die Stadt Stendal selbst erhob eine Verfassungsbeschwerde. Sie hatte Angst, daß der ICE an Stendal vorbeirasen würde und die sachsen-anhaltinische Stadt ihre Rolle als Eisenbahnknotenpunkt verlieren würde. Zwischenzeitlich hatte allerdings die Bundesbahn zugesagt, daß für eine Probezeit von drei Jahren mehrere ICE- Züge pro Tag im Stendaler Bahnhof halten werden. Außerdem verlor auch das rechtlich zentrale Argument der Stadt, daß durch die „Südumfahrung“ der Bahn ihre Erweiterungsmöglichkeiten beschnitten wurden, an Überzeugungskraft. Denn inzwischen wurde neben dem Bahnkörper eine Ortsumfahrung für eine Bundesstraße gebaut.

Wohl deshalb befaßte sich Karlsruhe auch vor allem mit der hessischen Verfassungsklage, die jedoch auf ganzer Linie abgeschmettert wurde. Einstimmig beschloß der Zweite Senat unter Vorsitz von Jutta Limbach, daß das Gesetz verfassungsgemäß sei. Zwar bringe die Planfeststellung per Gesetz „enteignungsrechtliche Vorwirkungen“ mit sich, das heißt, beim Enteignungsverfahren spielen die besten Argumente keine Rolle mehr. Dies sei jedoch zulässig, wenn die sonst übliche Planfeststellung „mit erheblichen Nachteilen für das Gemeinwohl verbunden wäre“.

Derartige Nachteile sah das Gericht bereits in der Verzögerung des ICE-Trassenbaus von etwa einem Jahr. Das Vorhaben habe schließlich erhebliche Bedeutung für die Stärkung der Wirtschaft in den neuen Ländern.

Mit diesem Maßstab ist künftig einiges möglich. Und die Bundesregierung wird wohl nur deshalb nicht häufiger zum Mittel des Maßnahmengesetzes greifen, weil eben auch dann nicht alles von alleine läuft. Zwar ist die Südumfahrung Stendal inzwischen fast fertiggestellt, doch verzögert sich die Inbetriebnahme der ICE-Trasse nun doch um mindestens ein Dreivierteljahr. Vor allem ein Schongebiet für Großtrappen in Brandenburg macht noch Schwierigkeiten. Und gegen den Vogelschutz helfen bislang auch keine Maßnahmegesetze.

Kommentar Seite 10

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