■ „Warum eigentlich hat man das Teeren und Federn abgeschafft?“: Richter Gnadenlos: das Tagebuch
Über 90 Prozent der Deutschen sind laut „Bild“-Zeitung der Meinung, die deutschen Richter richteten zu milde. Doch es gibt Richter, die sich dieses Urteil des Volkes zu Herzen nehmen und hart durchgreifen – im Namen des Volkes –, wie das Tagebuch eines Amtsrichters beweist, das vor dem Hamburger Justizgebäude gefunden wurde. Die Identität seines Verfassers ist uns nicht bekannt.
10. März: Zweieinhalb Jahre sind zuwenig (autokratzende Furie), mehr war nicht durchzukriegen. Es wird der Tag kommen, an dem ich solche Subjekte den Rest ihres Lebens Scheiße von Bahnschienen kratzen lasse. Sie hat fast gewinselt! Die hätte mir die Stiefel geleckt für eine mildere Strafe.
22. Juni: Der indische Kanake kann von Glück sagen, daß das Gesetz nicht mehr hergibt als zweieinhalb Jahre. Hat dem deutschen Volk die Arbeit weggenommen – ohne Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Öffentliches Auspeitschen (flankierend) wäre wirkungsvoll.
23. Juni: Morgens lange vorm Spiegel: Ich kann warten. Das Volk wird mich fürchten und lieben; Verbrecher, Zigeuner und sonstiges Gesindel werden vor mir zittern. Abends wieder vorm Spiegel: Peitsche steht mir sehr gut.
24. August: Der Chefredakteur der Hamburger Morgenpost baut mich auf, macht mich zum Titelhelden. „Wütender Rächer“ will er mich nennen, und „Richter Gnadenlos“. Morgen gehören die Seiten 1 bis 3 mir. 21 Uhr: Noch mal mein Interview gelesen und mein Foto angeschaut. Es ist mir rätselhaft, warum immer noch keine Frauen angerufen haben, die sich mir hingeben wollen. Diese eingebildeten Emanzen werden ihre Arroganz noch bereuen, die nächste Ladendiebin geht in den Bau. Warum eigentlich hat man so wirkungsvolle Strafen wie das Teeren und Federn abgeschafft?
25. August: Mopo-Chef Mathias Döpfner mußte sich pro forma von meinen härteren Urteilen distanzieren, hat dies clever gemacht: Der „wütende Rächer“ ehrt mich, und daß ich den „Finger in die Wunde gelegt (hätte), die bisher mit politischem Filz gestopft wurde“, war ein kerniger Schlußsatz. D. später zum Propaganda- Chef machen!
25. August: „Kaltstellen“ will mich der Richterverein, mit einem psychiatrischen Gutachten! Haha! Weiß jetzt, warum keine Frauen anrufen, die mir die Stiefel lecken wollen: Man manipuliert mein Telefon. Döpfner muß helfen.
1. September: Lady Di ist abgekratzt! Mein Rekord (drei erste Mopo-Seiten) ist im Eimer. Sie hat die ersten 30. Dafür könnte ich sie umbringen, die Schlampe!
2. September: Es geht voran. Der Stern hat mich interviewt, ist auf meiner Seite (Pro-forma-Distanzierung geht klar)! Focus, Springer sowieso, RTL, Sat.1 und das ZDF werden folgen. Habe dem Stern gesagt, daß ich nichts gegen die Todesstrafe hätte, wenn sich eine parlamentarische Mehrheit dafür fände. Das 68er-Geschmeiß wird kochen, das Volk mir zujubeln. Vielleicht Österreich heimholen.
4. September: HH1 hat mir nach dem Stern-Interview eine Talkshow gewidmet, mit Weicheiern von Jungrichtern, Anwälten und Bullen. Habe sie mit ihrem Gekeife gegen die Todesstrafe als antiamerikanisch entlarvt.
26. September: Talkshow bei N3, bundesweit. Habe beredt die Resozialisierungs- und Weltverbesserungseuphorie der siebziger Jahre der Lächerlichkeit preisgegeben. Karasek, der Literaturfuzzi, hat mir zugestimmt. Die Bedeutung der Erbanlagen für das Verbrechen erklärt und Juso-Tante an den Rand des Nervenzusammenbruchs gebracht!
27. September: Vorm Spiegel. Dieses Volk braucht Gerechtigkeit, Zucht und Ordnung. Dieses Volk braucht Führung. Dieses Volk braucht mich. Joachim Frisch
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