Rhetorikanalyse des Wahlkampfs: „Alles Erdenkliche“ als Versprechen
Die oft benutzten Glückwunschformeln bedeutet einfach alles und nichts zugleich. Das gilt insbesondere in der Welt der Politik.
In ihrer letzten Rede im Bundestag sagte die Bundeskanzlerin zum syrischen Bürgerkrieg: „Deshalb werden wir auch das G-20-Treffen nutzen und alles Erdenkliche tun, um doch noch zu einer gemeinsamen Haltung der internationalen Staatengemeinschaft zu kommen.“
Wir kennen „alles Erdenkliche“ aus Glückwunschformeln. So geschehen in der gleichen Sitzung durch den Bundestagspräsidenten anlässlich mehrerer Geburtstage. Im Glückwunsch steckt eine Konvention, die es dem Glückwünschenden erspart, sich tatsächlich Gedanken über das Glück des Jubilars zu machen. Im Glückwunsch bleibt „alles Erdenkliche“ zwingend an das Gute gebunden. Der Zwang bremst die Bosheit, in das Erdenkliche mehr zu mischen, als dem Jubilar gut bekäme.
Was steckt in der Formel drin? Wird da tatsächlich gedacht? Klingt „alles Erdenkliche“ nicht gruselig? Wer „alles“ sagt, kann nichts ausschließen. Das macht die Formel so zwiespältig, wenn sie in Zeugnissen verwendet wird. „Wir wünschen unserem ausscheidenden Mitarbeiter alles erdenklich Gute.“ Meine Güte! Was muss dem für eine Marter vorausgegangen sein. Oder ist die Formel bloß ein gedankenloses Versprechen? Dann wäre sie eine paradoxe Intervention.
Hans Hütt ist Public-Affairs-Berater und Publizist in Berlin. Er bloggt unter Wiesaussieht.
Das Erdenkliche gewinnt keine Gestalt. Das gilt besonders für „alles Erdenkliche“ in der Welt der Politik. Die Bundeskanzlerin ist kraft ihres Amtseids dazu berufen, Schaden abzuwenden. Der syrische Bürgerkrieg hat das Potenzial zu manchem erdenklichen Schrecken. Was könnte auf dem G-20-Gipfel zu allem Erdenklichen gehören, durch das die Bundeskanzlerin eine gemeinsame Haltung der 20 Staaten herbeiführt?
Bisher ist von Deutschland nur ein „ohne uns“ zu hören. Was ist davon zu halten, wenn die Wahlkämpfer nur die Sehnsucht zeigen, dass der syrische Bürgerkrieg ihnen auf dem Weg zum 22. September nicht auf die Füße fällt und eine Haltung abverlangt, die über die Verurteilung des Giftgaseinsatzes hinausreicht? Mögen sich andere einen Kopf machen, in den wir alles Erdenkliche hineingeheimnissen können, solange uns das Denken erspart bleibe.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Soziologische Wahlforschung
Wie schwarz werden die grünen Milieus?
Streit um tote Geiseln in Israel
Alle haben versagt
Nach Absage für Albanese
Die Falsche im Visier
Nach Taten in München und Aschaffenburg
Sicherheit, aber menschlich
Treibhausgasbilanz von Tieren
Möchtegern-Agrarminister der CSU verbreitet Klimalegende
Ägyptens Pläne für Gaza
Ägyptische Firmen bauen – Golfstaaten und EU bezahlen