Revolution in Ägypten: "Der Westen verpasst eine Chance"
Nicht die Demonstranten, sondern das ägyptische Establishment blockiert einen demokratischen Übergang. Das sagt der ägyptische Politikwissenschaftler Amr Hamzawy.
taz: Herr Hamzawy, wer regiert derzeit Ägypten? Präsident Husni Mubarak, der neue Vizepräsident Omar Suleiman, die Armee oder niemand so recht?
Amr Hamzawy: Wir haben es mit vier zentralen Figuren zu tun: dem Präsidenten und dem Vizepräsidenten, außerdem mit dem Premierminister Ahmad Schafik und dem Verteidigungsminister Hussein Tantawi. Sie alle entstammen dem Militär und setzen die Vorgaben des Militärs in die Tat um. Das Militär regiert derzeit das Land.
Suleiman hat am Mittwoch gesagt, dass man die Proteste nicht länger dulden werde. Ist damit zu rechnen, dass die Bewegung mit Gewalt niedergeschlagen wird?
AMR HAMAZAWY, 43, in Kairo geboren, ist Politikwissenschaftler. Er studierte in Kairo und Amsterdam, promovierte an der FU Berlin und arbeitet als Forschungsdirektor des Carnegie Middle East Centers in Beirut. Derzeit hält er sich in Kairo auf und gehört dem "Rat der Weisen" an.
Noch am selben Tag haben sich die Proteste ausgeweitet: In verschiedenen Städten streikten Arbeiter. Das hatte es in den Wochen zuvor nicht gegeben. Außerdem gab es erstmals Kundgebungen in Oberägypten. Die Drohung hat die Menschen nur dazu gebracht, an diesem Tag besonders aktiv zu werden.
Die Drohung steht dennoch im Raum.
Ja, aber es ist zu spät, um diese Bewegung mit Gewalt zu unterdrücken.
Was macht Sie so sicher? Immerhin hat Suleiman auch vor einem Putsch gewarnt.
Ausschließen kann ich das natürlich nicht. Aber es gibt Indizien: In ihrer Geschichte hat sich die ägyptische Armee nie an Gewalt gegen Bürger beteiligt, deshalb genießt sie in der Bevölkerung auch hohes Ansehen. Und die übrigen Sicherheitskräfte sind in einem desolaten Zustand.
Der "Rat der Weisen", dem Sie angehören, hat sich zu Gesprächen mit dem Vizepräsidenten und dem Premierminister getroffen. Wie beurteilen Sie den Verlauf der Gespräche?
Unser Eindruck ist, dass das Establishment versucht, seine Macht zu konsolidieren. Sie wollen das System nicht aufgeben und sind nur zu minimalen Zugeständnissen bereit. Diese gehen zwar in die richtige Richtung, aber der große Wurf, um Ägypten zu reformieren und zu demokratisieren, den wir uns alle wünschen, ist noch nicht da.
Ein umkehrbarer Übergang ist also noch nicht eingeleitet?
Nein. Was das Establishment, der Vizepräsident und der Premierminister, bislang angeboten haben, reicht nicht, um uns davon zu überzeugen, dass wir bereits in einer demokratischen Übergangsphase sind.
Werden die Demonstranten vom Tahrir-Platz und die jungen Leute in diese Gespräche einbezogen?
Nein. Die ernsthaften Gruppen vom Tahrir-Platz haben deutlich gemacht, dass sie diese Gespräche als autoritäre Veranstaltung erachten und dass sie sie ablehnen. Sie sagen: Wir wollen nicht verhandeln, wir wollen, dass unsere Forderungen erfüllt werden.
Die dringendste davon ist für sie der Rücktritt Mubaraks. Wie sehen Sie das?
Ich halte das im Moment nicht für die zentrale Frage. Es geht nicht um den schnellen Sturz Mubaraks, sondern um eine ernsthafte und dauerhafte demokratische Öffnung Ägyptens.
Was schlagen Sie vor?
Als "Rat der Weisen" haben wir einen Kompromiss vorgeschlagen: Der Präsident soll das Parlament um die Verfassungsänderungen bitten, die notwendig sind, um demokratische Wahlen zu ermöglichen. Danach soll er das Parlament auflösen - zu einer solchen Maßnahme ist nur er befugt - und alle Befugnisse dem Vizepräsidenten übertragen, um den Übergang zu gestalten.
Was sagen denn die Leute vom Tahrir-Platz dazu?
Aus den vielen Gesprächen, die ich tagtäglich dort mit Menschen führe - mit den unterschiedlichen Gruppen, aber auch mit den vielen unorganisierten Bürgerinnen und Bürgern -, glaube ich, dass ein solcher Kompromiss für sie akzeptabel wäre. Es ist das Establishment, das sich dagegen sperrt.
Die westlichen Staaten scheinen Mubarak so lange wie möglich im Amt halten zu wollen. Wie kommt das in Ägypten an?
Die Leute sind enttäuscht von der wechselhaften Politik der Amerikaner und der Unklarheit der Europäer. Aber irgendwo ist ihnen das auch egal. Denn im Moment spielt sich alles hier in Ägypten ab, es ist ein Kampf zwischen dem Establishment und den Bürgern, die in Millionen auf die Straße gegangen sind, um für Demokratie und soziale Gerechtigkeit zu demonstrieren. Externe Akteure spielen derzeit höchstens eine Nebenrolle.
Verpasst der Westen derzeit eine Chance?
Ja, so wie er sie schon in Tunesien verpasst hat. Selbst wenn die westlichen Staaten sich jetzt auf die richtige Seite schlagen würden, könnten sie es nicht wiedergutmachen, dass sie so lange an autokratischen Herrschern festgehalten haben. Und mit ihrem ambivalenten Verhalten verpassen sie die Chance, die Fehler der Vergangenheit wenigstens ein bisschen zu korrigieren.
In Kairo scheint allmählich wieder der Alltag einzukehren. Ist das gut oder schlecht für die Protestbewegung?
Den demokratischen Kräften schadet es nicht, wenn der Alltag zurückkehrt, im Gegenteil. Das befreit die Bewegung vom Druck der Gesellschaft, dass die Menschen sagen: Wir wollen unsere Gehälter ausbezahlt bekommen, wir wollen in die Krankenhäuser etc. Wenn diese alltäglichen Dinge wieder funktionieren, kann das Regime die Protestbewegung - die Revolution - nicht als etwas darstellen, das vom großen Teil der Gesellschaft nicht unterstützt wird. Die Herausforderung für die Oppositionsbewegung besteht darin, wie sie ihre Aktivitäten weiter ausbaut und ausweitet. Die Streiks und die Proteste in Oberägypten zeigen, dass es mehr Möglichkeiten gibt, als nur am Tahrir-Platz zu demonstrieren.
Bei einer Umfrage gaben 52 Prozent der Deutschen an, dass die Aufstände in der arabischen Welt ihnen überwiegend Sorge bereitet. Verstehen Sie das?
Wenn jetzt selbst ernannte Experten davor warnen, dass die Muslimbruderschaft die Macht übernehmen könnte, verkennen sie den demokratischen Charakter der Entwicklung in Ägypten. Die Muslimbrüder sind eine Kraft, eine organisierte, aber nicht die entscheidende Kraft. Die meisten Menschen, die jetzt auf der Straße sind, sind Vertreter der Mehrheit, die so lange geschwiegen hat. Sie sind unideologisch und demokratisch. Natürlich sind Übergangsphasen instabil, und sie können lange dauern und verunsichern. Aber wenn sie gelingen und am Ende zu einer demokratischen Gesellschaft führen, ist das nicht nur für Ägypten, sondern für die Welt besser als das veraltete, autokratische, undemokratische Regime, das wir in den letzten drei Jahrzehnten hatten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Netzgebühren für Unternehmen
Habeck will Stromkosten senken
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg