piwik no script img

Retrofuturistisches Hörspiel-MusicalDie Pioniere vom Aero Club

„Sonora Mystery“ erzählt von Antigraviationspulver, von Geheimbünden und Zeppelinen. Das Hörspiel changiert zwischen Mockumentary und Musical.

Wer hat dieses Luftschiff zum Fliegen gebracht? Foto: Weltrundschau zu Reclams Universum 1913

Gab es im 19. Jahrhundert eine kalifornische Ufo-Sekte zur Eroberung des Luftraums? War Peter Mennis der Erfinder des ersten steuerbaren Luftschiffs, der „Aero Goosey“? Und was verbarg sich hinter dem grünen Antigravitationspulver der Aeronauten?

Diesen Fragen widmet sich das opulente retrofuturistische Hörspiel-Musical „Sonora Mystery“ – die letzte Arbeit von Ergo Phizmiz. Und die erste von D. W. Robertson. Nach fünfzehn Jahren hat sich der 1980 geborene britische Multi-Instrumentalist und Performancekünstler entschlossen, hinter seinem Pseudonym hervorzutreten – oder, wie er selbst es ausdrückt, „to kill off Ergo Phizmiz“.

Produziert wurde die Radioarbeit vom BR. Der mysteriöse Betrachtungsgegenstand ist der „Sonora Aero Club“. Ob es den je gegeben hat, ist unklar. Einziger Anhaltspunkt für die Existenz des „Aero Club“ sind die Aufzeichnungen von Charles A. A. Dellschau, der als junger Mann Mitte des 19. Jahrhunderts von Preußen nach Nordamerika ausgewandert war.

Teile seiner Illustrationen von Flugmaschinen, die Ballons und Zeppelinen ähneln, wurden in den 1950er Jahren in Houston entdeckt. Die Zeichnungen sind mit Texten versehen und mit Zeitungsauschnitten (von Dellschau „Press Blooms“ genannt) collagiert. Dellschau behauptete, der „Sonora Aero Club“ habe mit Antigravitationsmittel und ominöser Geheimformel die Luftfahrt erfunden.

Es seufzt das Akkordeon, es gurrt die Ukulele

„Sonora Mystery“ bildet um dieses angebliche Pioniertum nun eine ganze Story, die als Musical szenisch dargestellt wird. D. W. Robertson (bzw. Ergo Phizmiz) zeigt auch musikalisch sein Können – in den atmosphärisch sehr konkreten Themen der einzelnen Szenen und den sich daraus entwickelnden Songs. Für die Umsetzung der Komposition hat Soundartist Robertson einem Harmonium Atem eingehaucht, ein Akkordeon zum Seufzen gebracht und sich auch an Ukulele, Violine und vielem mehr betätigt. Orchestral aufgeschichtet wurden die Einzelaufnahmen nachträglich.

Der Hörer folgt dem entrückten Charakter Dellschau (gesprochen von Michael Malak), Held der Handlung. Zunächst wohnt Dellschau den Treffen des „Sonora Aero Club“ als Chronist bei. Nach einigen Jahren Abwesenheit stößt er erneut zu den Luftfahrern. Es kommt zum lebensbedrohlichen Konflikt mit dem in der Zwischenzeit zum Sektenführer und Schurken avancierten Peter Mennis (D. W. Robertson). Entkommen kann Dellschau via Himmelfahrt, bei der er die dunkle Seite des Mondes passiert.

Ein erzählerischer Rahmen, der im Stil einer Doku gehalten ist, umfasst und gliedert das szenische Geschehen. Auf dieser zweiten Ebene wird das Spiel mit den Genregrenzen angestoßen, zu dem „Sonora Mystery“ einlädt. Am Anfang erweckt die Erzählerin (Selina Bloechlinger) den Eindruck, dokumentarisches Musiktheater zu präsentieren. Neben der karikaturenhaften Darstellung der Charaktere und dem absurden Geschehen wird diese Mockumentary-Illusion später noch einmal gebrochen, wenn die spärliche Faktenlage erläutert wird. Ein weiteres Spiel mit Fakt und Fiktion übernimmt „Sonora Mystery“ direkt von Dellschaus Collagen, den vorgetragenen „Press Blooms“.

„Sonora Mystery“

Sendetermin: Bayern 2, 6. November, 21.05 Uhr; Hörspiel, Komposition und Realisation: Ergo Phizmiz/D. W. Robertson; Redaktion: Redaktion: Katarina Agathos; mit Michael Malak, Selina Bloechinger, Thea Martin, Ergo Phizmiz/D. W. Robertson

„Sonora Mystery“ ist ein experimentelles Hörspiel, ohne auf Hörerbindung zu verzichten. Es ist frei von Schenkelklopfern, enthält aber viel feinsinnigen Humor. Das zeigt auch die Abrechnung von Robertson mit dem unter „Birdman-Syndrom“ leidenden Mennis – ein Seitenhieb auf ein ähnliches Faible von Ergo Phizmiz.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!