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Repression gegen Journalist*innen„Weitermachen, wo wir aufgehört haben“

Der Journalist Emre Orman wurde verhaftet, weil er Tweets von Demirtaş geteilt hat. Bekannt ist er für seine mutige Dokumentation von Polizeigewalt.

Emre Orman wurde trotz Justizreform inhaftiert Foto: Evrensel

„Liebe unabhängige Presse, ich hoffe es geht dir gut. Ich bin zuversichtlich und hoffnungsvoll. Warum, weißt du bestimmt. Bald werden wir uns wiedersehen und dort weitermachen, wo wir aufgehört haben …“ Diese Nachricht schickte der Journalist Emre Orman am 24. Oktober nach seiner Verhaftung mit Hilfe seines Anwalts an die Außenwelt. Sein Fall ist paradigmatisch für das Klima, in dem Journalist*innen in der Türkei arbeiten: Wegen seiner Beiträge in sozialen Netzwerken wurde Orman am 23. Oktober im Istanbuler Stadtteil Ataşehir festgenommen und zum örtlichen Polizeipräsidium gebracht. Am nächsten Tag ordnete das Gericht Untersuchungshaft an. Orman wird vorgeworfen, Propaganda für die marxistisch-leninistische Organisation DHKP-C gemacht zu haben. Seitdem sitzt er in einer Einzelzelle in einem Gefängnis im Istanbuler Stadtteil Maltepe.

Der 24-jährige Emre Orman studierte BWL an der Istanbul Universität. Vor drei Jahren wurde er Mitglied bei der Türkischen Journalistengewerkschaft TGS und begann als freier Journalist zu arbeiten. Orman filmte und fotografierte hauptsächlich Proteste in Istanbul, wo in den vergangenen Jahren immer mehr Versammlungsverbote ausgesprochen wurden. Die Journalistin İrem Afşin, die oft mit Orman zusammen von den wöchentlichen Samstagskundgebungen der Cumartesi Anneleri (Samstagsmütter) berichtete, sagt über ihn: „Er ist dafür bekannt, dass er in schweren Augenblicken besondere Aufnahmen macht wie kein anderer.“ Seine Fotos teile er mit anderen Journalist*innen. „Urheberschaft ist ihm dabei nicht wichtig. Wichtig für ihn ist, die Stimmen der Menschen hörbar zu machen.“ Auch für taz gazete berichtete Orman per Video.

Während des Präsidentschaftswahlkampfes im Juni 2018 landete eine Nachricht des Journalisten im Mailfach von taz gazete. Er schlug vor, für taz gazete die große Kundgebung des oppositionellen Präsidentschaftskandidaten Muharrem İnce einen Tag vor den Wahlen zu dokumentieren. Ab diesem Zeitpunkt berichtete Orman für taz gazete von vielen Protesten in Istanbul per Video, so etwa vom 1. Mai oder von der Pride-Parade. Dabei brachte er sich selbst in Gefahr, um die staatliche Gewalt mit seinen Videos für alle sichtbar zu machen. Doch die Gefahr, die zu seiner Verhaftung führte, lauerte woanders, nämlich im Internet. Die Beiträge, unter deren Vorwand Orman jetzt so plötzlich verhaftet wurde, sind nicht einmal neu.

Wirkungslose Justizreform

Ormans Anwalt Kerem Karakurt bezeichnet die Verhaftung seines Mandanten als „absurd“. „Gegen Orman wurden wegen Beiträgen aus den Jahren 2017 und 2018 Ermittlungen eingeleitet“, sagt er. „Ihm wurde sogar vorgeworfen, Tweets des inhaftierten ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş geteilt zu haben. Ormans Verfahren wurde jedoch dann eingestellt.“ Doch viele Akten von Journalist*innen, die sich aktuell über die sogenannte „Operation Friedensquelle“ der Türkei in Syrien kritisch äußerten, werden nun im Zuge einer neuen Verhaftungswelle wieder aus den Schubladen geholt. „Das heißt, dass der Grund für die Verhaftung von Emre Orman ein eingestelltes Verfahren aus dem vergangenen Jahr ist“, erklärt Karakurt.

Von der Justizreform, die in den vergangenen Monaten im Parlament diskutiert wurde und angeblich demokratisierend wirken soll, erhofften sich viele, dass sie genau für solche Fälle Lösungen parat hat. Denn im siebten Paragraf dieses Reformpakets wurde der Tatbestand Propaganda neu festgelegt. So sind „Beiträge, die der Information oder Kritik dienen, kein Straftatbestand“ mehr. Ironischerweise wurde Orman jedoch an dem Tag verhaftet, an dem diese Reform öffentlich bekanntgemacht wurde. Weder die Staatsanwaltschaft noch das Gericht waren der Auffassung, dass Ormans Beiträge der Information oder Kritik dienten.

Laut seines Anwalts Karakurt gibt die Tatsache, dass es sich um einen Einzelfall handelt, Hoffnung darauf, dass Ormans Fall schnell verhandelt wird und er womöglich bereits in der ersten Verhandlung freigesprochen wird. Doch bisher ist noch nicht bekannt, wann diese Verhandlung stattfinden wird. Am 26. Oktober gab der Menschenrechtsverein IHD in seinem Istanbuler Büro eine Pressekonferenz für Emre Orman, an der neben Journalist*innen auch Abgeordnete der Oppositionsparteien CHP und HDP teilnahmen. Buse Söğütlü, Reporterin der Onlinezeitung Yolculuk, hielt fest, dass in den ersten neun Monaten des laufenden Jahres in der Türkei 59 Journalist*innen festgenommen worden seien, von denen 14 in Untersuchungshaft sitzen. Im Namen einer Gruppe unabhängiger Journalist*innen sagte sie: „Wir sind Zeug*innen von Emres Journalismus.“

Aus dem Türkischen von Julia Lauenstein

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