Reportage Berliner S-Bahn: "In 'ner Viertel Stunde da. Hoffentlich."
Wer vom Berliner Alexanderplatz zur weniger als zwei Kilometer entfernten Friedrichstraße möchte, muss die Regionalbahn nehmen. Eine Reise durch das Berliner S-Bahn-Chaos.
Behäbig schleppt sich die S-Bahn aus dem Ostbahnhof heraus, als wolle sie zeigen, welch großer Druck jetzt auf ihr lastet. Vielleicht wiegt die Wut auf die "Scheißbahn", wie ein älterer Herr die S5 nennt, schwerer als die Körper der vielen Passagiere.
Festzuhalten braucht sich im Wagen keiner, die Oberkörper der umliegenden Menschen schützen einen davor, umzukippen, oder sie drohen einen zu zerquetschen, wie man's nimmt. Die Berliner Stammstrecke vom Ostbahnhof entlang der Spree in Richtung Westen endet heute am Alexanderplatz. Überhaupt fährt nur jede dritte S-Bahn.
"Das ist echt unglaublich. Ich habs zwar im Radio gehört, war aber zu gutgläubig und jetzt steh ich hier in dieser vollgesteckten Bahn und hab keine Ahnung, was jetzt passiert", schimpft der 22-jährige Andreas. "Und für diesen Mist zahle ich auch noch Geld." Eigentlich müsste er in zwanzig Minuten an seinem Arbeitsplatz sein, doch am Alexanderplatz w ird er seinen Chef anrufen müssen, um ihm zu sagen, dass von dort nichts weitergeht.
Am Alexanderplatz öffnen die Wagentüren und entlassen einen Menschenstrom,der sich am Bahnsteig wirr in alle Richtungen aufteilt. Eine junge Russin stößt sich an einem Mülleimer, sie hatte sich zu sehr auf ihren Stadtplan konzentriert.
Wer vom Alex zur Friedrichstraße möchte, muss die Regionalbahn nehmen, als wären die beiden Bahnhöfe metropolenferne Kleinstädte, die man nur über Land erreichen kann. Selbst die kürzeren Strecken in Berlin waren selten so lang. Um in die Regionalbahn nach Friedrichstraße einsteigen zu können, müssen die Passagiere drängeln wie vor dem Eingang eines Popkonzerts. Im Inneren des Waggons versucht eine Teenagerin mit Schulrucksack, ihre Hände freizukämpfen, um eine Nachricht in ihr Handy zu tippen: "Bin in ner Viertel Stunde da. Hoffentlich."
Die Ausnahmesituation lässt die Passagiere nicht nur körperlich näher rücken. Wenige Sekunden, nachdem der Zug mit seinem typischen, nach Anfahrt immer heller werdenden Ton, sich losmacht, beginnen die Fahrgäste in "das ist ja nichts, ich steckte zwei Stunden lang an der Bornholmer Straße fest"-Manier sich gegenseitig mit horrenden Reisegeschichten zu überbieten.
Die Menschen, die an die Fensterscheiben gepresst werden, sehen, wie der Zug in den nächsten Bahnhof einfährt. Eine Fanfare tönt aus den Lautsprechern, gefolgt von einer für die Situation viel zu fröhlichen Sprecherstimme: "Nächster Halt: Hauptbahnhof". Der Schaffner summt die Fanfarenmelodie mit. Auf die Frage, welches Lied das eigentlich sei, antwortet er: "Ich dachte immer, das wäre die Melodie von ,Jetzt kommen die lustigen Tage'."
Die Menschen, die am Hauptbahnhof in kleinen Grüppchen stehen und schräg nach oben auf die Anzeigetafeln gucken, auf der verzweifelten Suche nach verwertbaren Informationen, sind die Touristen. Ein junger Franzose namens Kevin und seine Freundin sind auf dem Weg zur Ifa. Hoffen sie jedenfalls. Von gebrochenen Achsen, kaputten Bremszylindern und dem Ausfall hunderter Züge haben sie nichts gehört.
"Es ist ein wenig chaotisch hier", wundert sich Kevin, "eigentlich dachte ich, hier in Deutschland läuft alles perfekt ab." Es ist nicht leicht, einem Touristen wie ihm zu erklären, warum ausgerechnet in der Hauptstadt Deutschlands zwei Drittel der Züge ausfallen, weil die Betreiber befürchten, die Züge könnten ihnen sonst um die Ohren fliegen.
Vor dem S-Bahn Kundenzentrum im Hauptbahnhof stehen Menschen mit Backpacks, Koffern und Reisetaschen Schlange. Manche von ihnen versuchen sich in dem Netzplan zurechtzufinden, der an einer Glaswand klebt. Neben dem normalen Plan hängt ein aktualisierter. Er sieht aus, als hätte ein Virus ihn befallen: Die bunte Stammstrecke ist jetzt ein roter, dicker Balken. Darüber steht in fetten Buchstaben: "Kein Zugverkehr".
Vor einem roten Absperrband, das die Fahrgäste davon abhalten soll, die Treppen zur S-Bahn hinaufzusteigen, stehen Bahnmitarbeiter und beantworten Fragen. Ein aufgebrachter, älterer Berliner mit Hut und Gehstock möchte wissen, welche Züge denn überhaupt noch fahren würden. Der Bahnmitarbeiter antwortet freundlich, er könne es mit der Ringbahn probieren, doch da müsse er viel Zeit mitbringen.
Der S-Bahnhof Gesundbrunnen ist so ein Fall, für den man Zeit braucht. Über das Gleis der Ringbahn-Station rennt gerade ein etwa 50-jähriger Herr mit rotem Kopf. Horst Bressem geht die Sache jetzt strategisch an. Um nicht schon wieder an einem Bahnhof zu stranden und weitere Stunden zu verbringen für einen Weg, für der sonst insgesamt nur eine knappe Stunde braucht, spurtet er an der Masse an Leuten vorbei, die in den Mittelteil des Zuges einsteigen wollen.
Kurz bevor die Türen schließen und er nochmal warten müsste auf den nächsten Zug, quetscht er sich ins Waggon. Die Fensterscheiben beschlagen, Bressem tropft Schweiß von der Nase, die Passagiere scheinen zu dampfen. "Ich saß vorhin noch im Regioexpress. Dort konnte mir keiner der Schaffner sagen, ob es am Hauptbahnhof weitergeht. Die S-Bahn gehört doch zu denen, oder nicht?", regt sich Bressem auf. Fast verliert er das Gleichgewicht, als eine ältere Dame sich an ihm abstützt. Behäbig schleppt sich die S-Bahn voran. Auf dass der Druck ihr nicht zu viel wird.
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