Replik der Bürgerrechtler auf Schäuble: "Wir machen keine Angst"
Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble hatte im taz-Interview Bürgerrechtler scharf kritisiert: Sie schürten unnötige Erregung und seien außerdem geschichtsblind. Heute antworten die derart Angegriffenen.
Am Samstag, den 11.10.08, fand in Berlin eine große Demonstration unter dem Motto "Freiheit statt Angst - Stoppt den Überwachungswahn!" statt. Diese Demonstration war Teil eines Internationalen Aktionstages, bei dem in 23 Ländern protestiert worden ist. In Deutschland wurde der Protest gegen Massen-Überwachung und Massen-Datenspeicherung von mehr als 110 Organisationen unterstützt. Nach seriösen Berechnungen nahmen ca. 70.000 Menschen teil.
Die gesamte Demonstration verlief, trotz ungerechtfertigter Video-Überwachung und als zu ausufernd beschriebener Vorkontrollen seitens der Polizei, friedlich. Das Protest-Bündnis, bestehend aus einem Spektrum, daß von wertekonservativ bis linksautonom reichte, unterstützte geschlossen das Ideal der Friedenspflicht.
Diese 70.000 Menschen kamen nicht nur wegen des schönen Wetters oder der Datenskandale der Privatwirtschaft, wie etwa der Telekom, sondern, weil sie die Einhaltung rechtsstaatlicher Ideale und demokratischer Werte und Normen forderten. Der Staat mit seinen ausufernden Sicherheits- und Überwachungsgesetzen wird mittlerweile als die größere Bedrohung der bürgerlichen Freiheit gesehen. Mit anlaßloser Massendatenspeicherung des Kommunikations- oder Reiseverhaltens der gesamten Bevölkerung geraten alle ins Raster. Es darf in einem demokratischen Rechtsstaat nicht passieren, daß pauschal die gesamte Bevölkerung überwacht und jede Lebensregung registriert wird. Der demokratische Rechtsstaat darf nur im äußersten Notfall, bei konkret begründeten Verdacht im Einzelfall also, Daten erheben, Menschen überwachen, Verhalten registrieren.
Und ja, diese Grundsätze sind die Fundamente der freien demokratischen Grundordnung und sie sind in den Normen des Grundgesetzes kodifiziert. Das Grundgesetz, unsere Verfassung, ist der Leuchtturm, der den demokratischen Staat durch die Wirklichkeit leiten soll, es ist der Maßstab, an dem sich staatliches Handeln orientieren muss - oder aber das Gemeinwesen, wie wir es kennen, hört auf zu existieren.
Nicht die Protestbewegung macht den Menschen Angst, sondern die Protestbewegung formiert sich, weil sie den undemokratischen Staat nicht will. Sie hat Angst vor der Demontage grundlegender Werte und Normen. Sie hat Angst vor einer Politik, die dem Opportunismus des Augenblicks die Ideale unserer Gesellschaft opfert.
Und sie hat Angst vor den Politikern, die irrationale Ängste und Mißtrauen schüren, statt die realen Bedrohungen der Gesellschaft ernsthaft anzugehen.
Die Politik hat in den letzten 10 bis 20 Jahren einen Raubbau an den sozialen Sicherungssiystemen betrieben, die Bildungsmisere spricht für sich, eine nicht vorhandene Integrationspolitik, der Abbau sozialer Programme hat doch erst zu dem Unsicherheitsgefühl der Menschen geführt. Dem versucht nun die Politik mit der Rhetorik polizeilicher und militärischer Sicherheit zu antworten. Dies ist der falsche Weg.
Auch das geplante BKA-Gesetz ist ein Weg in die falsche Richtung. Hier soll eine politische Polizei installiert werden mit exekutivischen Befugnissen. Unser föderales Rechtsstaatssystem darf das nicht zulassen.
Die besten Mittel, Sicherheit zu schaffen, ist nicht Aufrüstung im polizeilich-militärischen Sinne, sondern eine stabile Gesellschaft, die auf Vertrauen basiert, die sich um die Schwächsten kümmert, niemanden ausgrenzt und alles tut, um gleiche Chancen für alle zu ermöglichen.
Und wir sehen glücklicherweise, daß die Gesellschaft trotz allem noch funktioniert. Während der Großdemonstration am Samstag stand das "Freiheit statt Angst"-Infozelt, in dem Material im Wert von mehreren tausend Euro lag, fünf Stunden mitten in Berlin unbewacht und unüberwacht herum. Und es ist nichts gestohlen oder zerstört worden! Zufall? Nein! Der Gemeinsinn der Bürgerinnen und Bürger hat hier funktioniert und wir danken hierfür. Diese Tatsache an sich rechtfertigt unser Vertrauen in die Gesellschaft und ist Grund genug, unseren Kampf gegen den Überwachungswahn fortzusetzen. Wir brauchen keine pauschale Überwachung der öffentlichen Räume und der Menschen.
Natürlich popularisieren wir mit dem Slogan "Stasi 2.0", aber wir verharmlosen die Regime der deutschen Vergangenheit nicht, sondern wir warnen davor, daß die heutigen Instrumentarien von zukünftigen Regierungen genutzt werden könnten. Wir warnen vor einer schleichenden Erosion des Rechtsstaates im Namen angeblicher Sicherheit - die keine ist. Es ist nachgewiesen, daß Videoüberwachung und Vorratsdatenspeicherung weder Verbrechen verhindern, noch signifikant die Aufklärungsquoten steigern. Kriminalität bekämpft man anders: durch Bildungsförderung, durch Armutsbekämpfung, durch Integration, Kulturförderung, soziale Programme und durch die Stärkung des Gemeinschaftsgefühls.
Unsere Bewegung wird weiter friedlich für eine freie und gerechte Gesellschaft eintreten. Unsere Bewegung wird weiterhin die Politik der Angst kritisieren und weiterhin juristisch gegen Unrecht vorgehen. Die Menschen spüren wieder, daß sie etwas bewegen können, wenn sie wollen - und es ist der Politik zu raten, dies möglichst frühzeitig zur Kenntnis zu nehmen, denn die nächste Wahl steht schon vor der Tür.
Wir haben Herrn Dr. Schäuble mehrmals persönlich angesprochen. Er wollte bis jetzt nicht mit uns reden. Wir halten unser Gesprächsangebot aufrecht, denn Demokratie braucht Diskurs.
VON RICARDO CRISTOF REMMERT-FONTES (Anmelder der Demonstration "Freiheit statt Angst 2008") UND LOTAR KÜPPER (Organisator der "Langen Nacht der Überwachung")
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen