Reisen mit den Sinnen: Das Haut-Tagebuch (3)
Reisen heißt sich anrühren lassen. Im Kopf, im Herz – und natürlich auch am Körper. Die Haut lässt auch die Welt erfühlen.
J etzt ist sie am mittleren Zeh. Sie knetet, schüttelt, zieht und zwirbelt, Knochen knacken, lang und immer länger scheint er aus dem Fuß hervorzuwachsen. Die junge Frau, die ab und zu halb schüchtern, halb kokett zu mir hochblickt, versteht ihr Handwerk. Ganz am Anfang hat sie meine Füße heiß gebadet und trocken gerubbelt. Der eine ruht jetzt im Wärmetuch, der andere ist in Arbeit: Sohle, Zehen, Ferse, Spann. Sie klopft und boxt, streichelt und drückt und reibt von heiß zu kalt und kalt zu heiß – kaum zu glauben, was man mit Füßen anstellen kann!
Mit fantastischen Folgen: Gelenke dehnen sich und entdecken neue Freiheit, Haut pulsiert, Nerven vibrieren, und das Blut sprudelt wie Champagner durch Adern, die offenbar erstmals für den Verkehr freigegeben wurden. Dann ist die Stunde zum Preis von 12 Euro um, und die Pekinger Lektion Nummer soundsoviel ist angekommen: Auch Füße können Lust am Dasein haben. Nach Trinkgeld und Kompliment gibt mir die Dame ein Kärtchen mit ihrem Namen: „Lin“. Und ein zweites, auf dem steht: „Your room number?“ Contenance, Leute. Reisende müssen auch Nein sagen können.
Reisen heißt sich anrühren lassen. Im Kopf, im Herz – und natürlich auch am Körper. Von Daumen, die am Arm reiben, um zu sehen, ob das Weiß nicht doch verschwindet. Von klebrigen Kinderfingern, die sich einem in die Hand schieben. Von Männerarmen, die wie Dreschflegel auf deine Schulter niederkrachen: Freundschaft, druschba, welcome, amigo!
Aber auch von den Zugriffen der Natur: Da brutzelt der Rücken zu Fetzen, weil sein Träger beim Schnorchelblick in die Unterwasserwälder Zeit und Sonne vergessen hat. Da erstarrt das Gesicht im eisigen grönländischen Wind wie eine zufrierende Pfütze, und Kristalle klimpern im Bart. Da kribbelt die Haut noch immer in Erinnerung an den Hundebiss in Äthiopien, die Flohstiche in der Ukraine.
Und das taube Gefühl, als nach der Nacht im lappischen Sumpf der Kopf von Mückenstichen zerbeult war wie ein alternder Luftballon. Noch heute fröstelt sie vor Glück und spürt, wie tröstlich kühl die Wellen darübergestürmt waren beim ersten Bad im Fluss nach der Wanderung durch das hitzestarrende Andalusien. Eingraviert in seine Haut trägt jeder und jede Reisende sein persönliches Tagebuch mit sich herum.
Natürlich heißt reisen aber auch selbst berühren. Die Finger ertasten sich wechselnde Welten: die kratzenden, samtenen, schuppigen Blätter des Regenwaldes; das stramme, nasse Fell der Pferde, über das nach dem Ritt am Fjord Schauder jagen; die Glätte einer Schnitzerei; den fein rieselnden Sand einer arabischen Düne.
P. S.: „Unsere Haut ist das, was zwischen uns und der Welt ist“, sagt die US-amerikanische Schriftstellerin Diana Ackerman in ihrem Buch „Die schöne Macht der Sinne“. Manchmal freilich, nur manchmal, wünscht man sich auch beim Reisen eine dickere.
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