Reisen mit Camper: Entschleunigung im Wohnmobil
Europaweit sind viele unterwegs mit dem Camper. Von der Suche nach einem Stellplatz profitieren immer mehr landwirtschaftliche Betriebe.
Inhaltsverzeichnis
Ist das jetzt „Down-Sizing“ oder ist es „Up-Scaling“, fragt sich Marco Dalan, Autor von Campergeschichten, nachdem er sich einen Campervan zugelegt hat. „Ist das reduzierte, ja zuweilen spartanische Leben im mobilen Heim nun ein Rückschritt – oder ein Fortschritt?“ Seine Antwort spiegelt das Fühlen und Denken vieler anderer, die es ihm gleichtun. Menschen, die alle irgendwie raus aus der Tretmühle wollen, die unabhängig sein und ins Freie wollen: „Ich habe,“ so Dalan, „ein neues Leben gewonnen.“ Selbst abzüglich allen Überschwangs bleibt unterm Strich: Draußen sein und unterwegs – das hat was!
Fakt ist: die Neuzulassungen der kleineren kompakten und alltagstauglichen Campervans (etwa Fiat Ducato) legten sprunghaft zu. Erstmals überholte die Zahl der Reisemobile die der Caravans, beide Gruppen zusammen kommen jetzt auf knapp 1,5 Millionen (bei insgesamt fast 60 Millionen Kraftfahrzeugen). Aktuell gibt es Lieferengpässe wegen Unterbrechungen globaler Lieferketten, es fehlt an Chassis. Aber die Nachfrage sei ungebrochen hoch, so der CIVD (Caravaning Industrie Verband). Und was hierzulande vor sich geht, das geschieht auch in anderen europäischen Ländern.
Und neue Fragen tun sich auf: Wo wollen die alle bleiben, wenn sie auf Tour gehen? Alle ins Grüne? Alle auf die Campingplätze?
Es gibt rund 5.000 speziell eingerichtete Stellplätze für Wohnmobile in Deutschland. Sie werden privat oder öffentlich betrieben, manche auch mit EU-Mitteln gefördert, wenn der Wohnmobiltourismus regional von Nutzen ist wie beispielsweise in Idar-Oberstein am Rande des Nationalparks Hunsrück. Einige touristische Routen, etwa die Deutsche Fachwerkstraße, setzen schon länger auf das mobile Klientel. Auch Thermalbäder haben zunehmend Stellplätze eingerichtet und bieten auf diese Weise neben preiswerten Übernachtungsmöglichkeiten auch ausreichend Platz für gesellige Wohnmobilisten, die gern von Kurbad zu Kurbad touren. Auf sehr vielen Stellplätzen ist es dennoch sehr voll geworden.
Stellplatzsuche neben den Klassikern von ADAC und Promobil sind zunehmend nutzerbasierte Apps interessant geworden, etwa park4night. Unter Weltreisenden ist die Universalapp iOverlander beliebt. Beide eignen sich besonders für die spontane Übernachtungssuche in einem bestimmten Umkreis einschließlich Übernachtungsmöglichkeiten auf Parkplätzen oder Stellflächen in der freien Natur.
France Passion Vor 30 Jahren wurde in Frankreich das Konzept privater Stellplätze bei landwirtschaftlichen Betrieben und vor allem auf Weingütern begründet. Es hat sich erfolgreich in anderen europäischen Ländern unter jeweils eigenen Namen weiterentwickelt. In Deutschland ist es „Landvergnügen“. Die Angebote reichen vom kleinen Biohof mit Direktvermarktung bis zum beliebten Landgasthaus. Infos beim Netzwerk www.fefi.eu
Online-Plattformen Privatleute bieten hier Unterkunft auf eigenen Anwesen an, sei es abgelegen in Wald und Flur oder direkt beim Gastgeber im eigenen Garten. Etwa Hinterland, Pop-up Camps (Campspace), Roadsurfer Spots, Vanlife Location, 1nite Tent, My Cabin, Alpaca Camping und einige mehr.
Vorsicht beim Wildcampen
Etwa Köln am Rhein. Als wir nach langer Fahrt nachmittags eintrudeln, ist alles belegt, die Womos stehen dicht an dicht. Ein Parkplatzambiente, das viele gewöhnungsbedürftig finden und über das sich Womoverächter gern amüsieren. Aber da ist auch die Nähe zum Fluss, man steht hier an den Rheinauen, ruhig und geschützt. Und zum Kölner Dom ist es nicht weit, es ist ein schöner Spaziergang auf der Rheinpromenade. Diese Kombination ist genial. Glücklicherweise ist der Platzwart freundlich. „Fahrt mal rechts ran, ich glaube, da will heute noch einer weg,“ sagt er. Und bald darauf ist der frei gewordene Platz samt Stromanschluss für Kühlschrank, für Handys und Tablets unser. Wir dürfen entspannen. Die Lehre dieses Platzes: Wir hätten vorreservieren sollen, denn deutsche Großstädte haben, was Stellplätze angeht, noch Nachholbedarf.
Natürlich hätten wir andere Lösungen gefunden. Vielleicht hätten wir eine Nacht am Straßenrand verbracht, mitten im städtischen Leben und ohne Strom. Oder hätten einen Parkplatz gefunden, wo gelegentlich auch Durchreisende, Wanderarbeiter oder Wohnungslose in Pkws nächtigen.
Aber rechtlich gesehen ist dies eine Grauzone. Auch in Deutschland ist, wie in fast allen europäischen Ländern, das Wildcampen verboten. Das Übernachten im Wohnmobil ist hierzulande generell dort erlaubt, wo es nicht ausdrücklich verboten ist, und zwar offiziell zur Wiederherstellung der Fahrtüchtigkeit. Dafür darf jeder ausgewiesene Parkplatz genutzt werden. Wie lange das dauern kann, ist nicht sicher, es können 8 oder 12 Stunden sein. Man muss allerdings darauf achten, kein campingähnliches Verhalten an den Tag zu legen, also keine Möbel rausstellen und den Grill anfeuern oder vielleicht noch Grauwasser ablassen oder das Klo im Kanal entleeren. Das wäre dann „Wildes Campen“ und könnte mit Bußgeld belegt werden.
Vans unter 6 Metern Länge haben praktisch kein Problem, bei entsprechender Rücksichtnahme bleibt man so unauffällig wie andere Kleintransporter auch. Auf klugen Apps, etwa „park4night“, finden sich mehr und mehr Tipps von Nutzern samt ausführlichen Beschreibungen, Fotos und Kommentaren, um möglichst angenehm durch die Nacht zu kommen.
Der Trend zum Vanlife
Und das nicht nur in Städten, sondern vor allem außerhalb, wo sich vielleicht ein abgelegener Platz in freier Natur und schöner Umgebung findet, vielleicht ein Wanderparkplatz oder eine Standfläche an einem Gewässer. Über alles wird berichtet.
In idyllische Natur zieht es viele, die Öko und Bio schätzen und sich vom Versprechen auf Individualität und authentische Naturerfahrung angelockt fühlen. Weil es immer mehr werden, kommt es auch zu Reibereien. Und die schränken die Freiheit auf vier Rädern tendenziell wieder ein: Immer häufiger tauchen Verbotsschilder auf, die Campen für Wohnmobilisten untersagen, und Nebensträßchen und privates Land werden durch Ketten versperrt.
Vor rund 10 Jahren tauchte „Vanlife“ als Entschleunigungsidee in urbanen US-amerikanischen Milieus auf, die eine moderne Work-Life-Balance anpeilten. Vorreiter waren vor allem technik-, medien- und designaffine Freelancer, deren Arbeitsmittel der Laptop ist. Warum nicht den Van als Homeoffice nutzen, wenn sich der Brotberuf auch von unterwegs erledigen lässt, so die Überlegung. Auf diese neuen Camper warteten die schönsten Orte der Welt. Und wenn mal eine Videokonferenz anstand, dann konnte man als Hintergrund anstelle einer drögen Bücherwand einen Meerblick in echt präsentieren.
An Wohnmobilisten haftet das Altersstigma. Euphemismen, etwa „Silverbirds“, kaschieren nur notdürftig das Image vom Wohnmobilismus als geriatrischer Freizeitbeschäftigung. Dazu kommt die starke Europaorienterung. Tatsächlich sind viele, vor allem ältere Wohnmobilisten, allein schon deshalb mit Europa glücklich, weil sie Länder, Strände und Landschaften, Welterbe und Kulturgüter ohne Passkontrollen und ohne wirkliche Bedrohungen, geschweige denn Krieg, bereisen und im Süden sogar überwintern können.
Die Tippgeber
Als hätte es nie Ressentiments gegenüber Campern gegeben, hat sich nun eine Enkelgeneration in Womos und Campervans vernarrt. Plötzlich ging alles ganz schnell. Büchertische wurden geflutet mit Titeln wie „Hit the Road“, „Off the Road“, „Bulli Challenge“, „Camper Hacks“, „The new Outsiders“, „Abenteuer Vanlife“, „Bulli! Freiheit auf vier Rädern“, „Van Girls: Starke Frauen und ihr ungebundenes Leben in Campervans“… Der Tenor: hier ist die Alternative! Kein Vanlife-Reiseblog kommt mehr ohne Selbstbauanleitung für den Innenausbau des Vans aus, auf Social Media machen Influencer mobil und fördern Vergemeinschaftungen.
Die wichtigsten Tippgeber von heute sind aber immer noch die Platzhirsche von gestern. ADAC und Promobil etwa bilden zuverlässig die europäische Camping- und Stellplatz-Infrastruktur ab, aber nicht mehr nur auf Papier, sondern heute mit Hilfe von informativen Apps. Für die Platzsuche sind sie kaum zu ersetzen, denn Womos sind in der Regel auf Ver- und Entsorgungsstationen angewiesen, die ihnen die offiziellen Plätze bieten. Und auch auf Strom. Nicht jeder Van ist autark dank eigenem Solarpanel.
Und immer noch gibt der Womoverlag grundsolide Tourguides in Buchform heraus, die Wohnmobilisten alle attraktiven Reiseregionen Europas erschließen. Ein zeitloses Reiseführermodell.
Doch für das neue Vanlife-Lebensgefühl werden zunehmend die Onlineplattformen junger Start-ups attraktiv. Und neue Geschäftsmodelle, die auf dem Prinzip „von privat für privat“ bzw. „Airbnb für Camper“ beruhen. „Hinterland“ beispielsweise, ein schönes Ergebnis der Lockdown-Pause, hat die Idee kultiviert, wilde Naturcamper einzuhegen. Das Team wirbt mit „nah, nachhaltig und naturverbunden“ und vermittelt nach eigenen Angaben über 1.500 buchbare Plätze von der Nordsee bis ins Allgäu. Die Spezialität sind abgelegene Plätze auf privaten Anwesen, auf denen man jederzeit ungestört ist. Etwa am Rande einer Weihnachtsbaumplantage und in Gesellschaft von Schafen auf dem Vogelsberg, wo man auch noch selbst ein Lagerfeuer machen kann. Mit Strom und Sanitäreinrichtungen sollte man auf den Plätzen von „Hinterland“ nicht unbedingt rechnen. Und auch nicht damit, dass der gebuchte Platz in jedem Falle preisgünstig ist.
Mindestens eine Handvoll Plattformen sind aktuell empfehlenswert und lassen sich bei einer Internetsuche unter einschlägigen Stichworten leicht ausfindig machen. Dabei darf man nicht vergessen, dass dieses Konzept schnelllebig ist. Einige Plattformen kooperieren mit jeweils einem der bekannten Reisemobilhersteller.
In jedem Fall muss man sich für jeden Platz voranmelden. Spontaneität ist hier nicht angesagt.
Hofladen inklusive
Als wir auf „Landvergnügen“ aufmerksam wurden, hatten wir wieder Glück direkt vor Ort. „Fahrt da mal hin, da steht ihr noch besser als bei uns … wir kommen gleich nach,“ sagten die Freunde, die wir besuchten. Etwas außerhalb von Witzenhausen/Nordhessen – eine reizvolle Landschaft und Kirschengegend – gibt es „Kindervatter“, den Kirschenhof, mit viel Platz für einige Wohnmobile etwas abseits im Grünen der gut gehenden Gastronomie und dem gut bestückten Hofladen. Es ist eine Adresse, die in der Region alle kennen. Die Tourismusbehörden haben Kirschenrouten für Wanderer und Radler kreiert, und dieser Hof, besser: dieses traditionsreiche Ausflugslokal liegt mittendrin. Wir erlebten einen langen, wundervollen Abend und eine erholsame Nacht.
Höfe wie „Kindervatter“, aber vor allem landwirtschaftliche Betriebe mit Einkaufsmöglichkeit, Weingüter, Imkereien, Brauereien, Käsereien, Schäfereien, Bäckereien, Rosenzüchter, Klostergüter, Spargelhöfe und viele andere machen das breit angelegte Angebot von „Landvergnügen“ aus. Aktuell sind 1.300 ländliche Gastgeber mit dabei. Das Konzept sieht den Kauf eines Stellplatzführers samt Vignette (und Freischaltung der App) vor, es gilt jeweils für ein Jahr und berechtigt auf jedem der angesteuerten Höfe zu einer einmaligen kostenlosen Übernachtung.
Es ist das älteste der alternativen Stellplatzkonzepte und ein Import aus dem campingfreundlichen Nachbarland Frankreich, wo es seit jetzt 30 Jahren als „France Passion“ immer größere Kreise zieht. Inzwischen haben sich die Anbieter aus 10 europäischen Ländern zum Verband FEFI zusammengefunden, über „Landvergnügen“ lassen sich auch die Stellplatzführer aus den Nachbarländern erwerben. Es ist sanfter Tourismus in seiner besten Form. Gerade in der Biolandwirtschaft generiert es Zusatzeinnahmen, ein Zubrot, das viele dringend benötigen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid