Reisebericht über Hongkong und China: Fußangeln für die Durchmarschierer
Marko Martin verbringt einen Jahreswechsel in Hongkong. Angesichts der chinesischen Repression denkt er über Unterdrückung und Befreiung nach.
![Ein Mann mit einem gelben Regenschirm läuft auf einer Straße in HongKong Ein Mann mit einem gelben Regenschirm läuft auf einer Straße in HongKong](https://taz.de/picture/5193206/14/Politisches-Buch-Hongkong-1.jpeg)
Einer der Aphorismen in „The Flame“, dem letzten Buch Leonard Cohens, lautet: „Oh, and one more thing: you aren’t going to like what comes after America.“
After America: der kommende politisch-ökonomisch-militärische Welthegemon wird nach Lage der Dinge die Volksrepublik China sein, und Marko Martins schönes Buch „Die letzten Tage von Hongkong“ ist deshalb nicht nur ein literarischer Reisebericht über den Jahreswechsel 2019/20 – den er mit seinem Partner in der ehemaligen britischen Kronkolonie verbracht hat –, sondern vermutlich auch eine Art Blick in die Zukunft der Welt.
Marko Martin: „Die letzten Tage von Hongkong“. Tropen Verlag, Berlin 2021, 320 Seiten, 22 Euro
Anders als in vielen seiner früheren Bücher hat der demokratische Reiseintellektuelle Martin diesmal nicht die Kollegen aufgesucht. Nicht die Begegnung mit Sprecherinnen der in jenen Wochen und Tagen durch die Pekinger Regierung niedergeknüppelten Demokratiebewegung Hongkongs stehen im Mittelpunkt des Buchs, sondern das private Leben der großen, faszinierenden und bedrohten Stadt: Hotels, Straßen, Clubs, Geschäfte, Restaurants, Musik, Filme, Sex. Der Aufstand und seine Niederschlagung, sein Gerücht, seine Andeutung sind dabei in jeder Beobachtung, in jeder Begegnung, in jedem Gespräch atmosphärisch anwesend.
Die Angst und das allgegenwärtig Bedrückende, das den Alltag während jenes Hongkonger Jahreswechsels durchdringt, ist das eigentliche Thema des Buchs. Und in den letzten Tagen des Freundespaars in Hongkong erreichen sie außerdem die ersten – noch halb geflüsterten – Nachrichten über den Ausbruch einer noch unbekannten Krankheit in Wuhan. Sie wird sich, während das Buch geschrieben und publiziert wird, über die ganze Welt verbreiten.
Das halb erstickte Flüstern angesichts totalitärer Macht – und ineins damit die Mikropolitik innerer Auflehnung, die in bestimmten historischen Situationen große Reiche stürzen kann: das sind die Lebensthemen des ehemaligen DDR-Bürgers und selbstbewussten Außenseiters Marko Martin.
Kämpfe unserer Epoche
Deshalb bringt der – vermutlich ursprünglich eher unpolitisch geplante – Silvesterurlaub in Hongkong die Erinnerung an Unterdrückungs- und zugleich Befreiungserfahrungen in ihm herauf, jene antitotalitären und dissidentischen Theorien, Gespräche und Freundschaften, die Marko Martin auf einer jahrzehntelangen Lebensreise durch die demokratischen Kämpfe seiner Epoche in sich angesammelt hat und die er wie kaum ein anderer deutscher Schriftsteller in gewisser Weise verkörpert.
Die Innenansicht totalitärer Repression wird in seinem Monolog lebendig, und zugleich alles, was man gegen sie denken und tun kann. Hongkong 2019 erinnert ihn an Prag 1968, an das Portugal der Nelkenrevolution, an die DDR vor Ausbruch des demokratischen Umsturzes. In der genauen Beobachtung des chinesischen Alltags und in der Erinnerung an die eigene Lebens- und Aufschreibgeschichte sucht er Spuren der Auflehnung, jene Momente, in denen die Angst plötzlich nicht mehr allmächtig ist.
Es sind die kleinen, unscheinbaren „Zusatzgeschichten als Fußangeln für die Großen Erzählungen der Linienzieher, Durchmarschierer, Plakataufsteller“, in denen sich diese geschichtliche Wahrheit ausspricht. Marko Martins Buch ist die Mikroskopie einer zeitgeschichtlichen Umbruchperiode, die gerade erst begonnen hat. „Oh and one more thing: you aren’t going to like what comes after America.“
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