Reiner Wandler über die Berber-Proteste in Marokko: Die Ruhe trügt
Die Bilder gleichen sich. Sechs Jahre nach dem arabischen Frühling sind im Norden Marokkos die Menschen erneut auf den Straßen. In al-Hoceïma und anderen Städten des Rifgebirges, der Region der Berber-Minderheit, verlangen sie erneut Würde und eine Zukunft. Sie protestieren gegen das, was in Nordafrika „Hogra“ genannt wird: ein Begriff, der von Machtarroganz über Entwürdigung und Missachtung der elementarsten Lebensbedürfnisse alles umfasst.
Auch weit im Süden, in den von Marokko besetzten Gebieten der ehemaligen spanischen Kolonie Westsahara, sind ähnliche Bilder zu sehen. Hier vermischt sich der Protest gegen die Perspektivlosigkeit mit dem Wunsch nach Unabhängigkeit.
Noch geben sich König Mohammed VI. und seine Regierung gelassen. Schließlich finden die Proteste nur in den beiden seit jeher als rebellisch geltenden Randregionen statt. Bis auf ein paar kleinere Solidaritätsaktionen – die meist von in Rabat und Casablanca lebenden Berbern oder Sahrauis veranstaltet werden – ist es im marokkanische Kernland ruhig.
Mohammed VI., seine Regierung und die dem Palast treu ergebene Presse nutzen gezielt die Konflikte zwischen der arabischen Bevölkerungsmehrheit und den Berbern sowie den Sahrauis. Ihnen wird der Stempel der Separatisten aufgedrückt. Was bei den Sahrauis – die nie Marokkaner waren – richtig ist, stimmt so bei den neuen Berbergenerationen nicht. Es geht um die soziale Situation. Und die ist überall im Lande mehr oder weniger gleich prekär.
Deshalb trügt die vermeintliche Ruhe im Kernland. Zwar hat der König im Laufe des Arabischen Frühlings die Verfassung geändert und kleine Portionen seiner Machtfülle an das Parlament und damit an die Parteien abgegeben – doch die soziale Lage in Marokko ist heute so angespannt wie damals. Der Funke kann, wie die Ereignisse von damals zeigen, schnell überspringen.
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