Regisseur über seine Kindheit im KZ: „Schaut SS-Leuten nie ins Gesicht“
Der Regisseur Celino Bleiweiß kam als kleiner Junge mit einem gefälschten US-Pass in eine fremde Familie und überlebte so das KZ Bergen-Belsen.
taz: Herr Bleiweiß, mit fünf Jahren hat Ihre Mutter Sie in eine neue Familie gegeben, um Sie zu retten. Würden Sie uns schildern, wie es dazu kam?
Celino Bleiweiß: 1941, mit dem Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion, marschierten die deutschen Truppen wieder in meine Heimatstadt Przemyśl ein und gründeten ein Getto. 1942 gaben sie bekannt, dass alle jüdischen Familien, die amerikanische Pässe besitzen, sich melden sollten. Sie würden gegen deutsche Kriegsgefangene ausgetauscht. Ein Freund oder Bekannter unserer Familie, Richard Bleiweiß, hatte eine Frau und eine Tochter, die beim ersten Einmarsch der Deutschen 1939 ermordet worden waren. Für beide hatte er – vermutlich gefälschte – amerikanische Papiere. Und nun kam diese Nachricht, dass er sich und seine Familie retten könnte. Da hat er in seinem Freundeskreis eine Frau und ein Kind gesucht, die er mitnehmen könnte. In dem Pass wurde aus Celina Celino gemacht und eine meiner Kusinen ging als neue Mutter für mich mit. Sie übernahm den Namen und den Geburtstag der ermordeten Frau.
Haben Sie verstanden, warum Sie weggegeben wurden?
Dass wir alle ermordet werden sollten, wussten wir auch als Kinder. Deshalb musste ich mich ja auch immer verstecken.
Hatten Sie ein echtes Gefühl der Angst dabei oder war das mehr wie ein Spiel?
Natürlich war da Angst, aber meine Angst hielt sich in Grenzen. Ich habe mein ganzes Leben kaum Angst gekannt. Ich will nur ein Versteck beschreiben, das ich gut in Erinnerung habe: Einige Männer haben mich in einen Keller geführt. Dann haben sie eine gemauerte Wand bewegt, die muss auf Rollen gewesen sein, und ich war in einem Raum ohne Tür. Später hörte ich, wie die SS mit Gewehrkolben gegen die Wände schlug. Ich hörte auch Hundegebell und irgendwann hat man die Wand wieder bewegt und die Männer haben mich herausgeholt.
Was ist Ihre früheste Erinnerung daran, dass Sie und Ihre Familie verfolgt wurden?
Das fing sofort mit dem zweiten Einmarsch der Deutschen an, dass alle Angst hatten. Ich kann mich vor allem daran erinnern, dass ich lernen musste, still zu sein: nicht rufen, nichts sagen, nicht weinen.
Wie sind sie mit diesem Sich-verstecken-Müssen fertig geworden?
Offenbar bin ich nie in Panik geraten. Ich war immer ziemlich ruhig. Ich kann mich aber nicht an den Moment erinnern, als ich von meiner Mutter an die Kusine übergeben wurde. Ich weiß nur noch, dass man mir den neuen Namen beigebracht hat: „Du heißt jetzt nicht mehr Michael Feiler, du heißt jetzt Celino Bleiweiß.“ Und dass ich lernen musste, zu meiner Kusine Mama zu sagen und zu diesem neuen Mann Papa – was mir schwer gefallen ist. Das war für mich ein fremder Mann.
1942 sind Sie mit Ihrer neuen Familie nach Bergen-Belsen deportiert worden.
Wir fuhren nicht in Güterzügen, sondern in Personenzügen. Da hieß es ja noch, wir fahren zu einem Austausch.
War Ihnen überhaupt klar, dass Bergen-Belsen ein Konzentrationslager war?
Ich wusste das natürlich nicht. Ich hatte nur mitbekommen, wie sie alle antreten mussten zu einem Zählappell. Was mich interessierte, was ich zum ersten Mal in meinem Leben sah, waren kleine Kiefern. Das ist mein erster Eindruck gewesen. Da waren so viele kleine Kiefern: kleine Bäume mit langen Nadeln. Nicht mal die SS hat mich so sehr beeindruckt.
Wie ging es weiter?
Wir marschierten in ein Sonderlager. Dort gab es hölzerne Baracken. Wir kamen in einen großen Raum für 500 Menschen mit Stockbetten. Männer wie Frauen behielten ihre Zivilsachen. Da wir ja nach wie vor als Tauschobjekte galten, wurden wir etwas besser ernährt, niemand wurde umgebracht, keiner musste Zwangsarbeit verrichten. Wir waren da quasi nur interniert und warteten, was passiert.
Celino Bleiweiß
84, wurde als Michael Feiler im polnischen Przemyśl geboren. Seine Eltern wurden während der Judenverfolgung ermordet, Feiler aber bekam falsche amerikanische Papiere von Juden, die ebenfalls ermordet worden waren, und wurde zu Celino Bleiweiß. Nach dem Krieg ging er in die DDR, studierte Regie an der Filmhochschule in Potsdam und wurde Film- und Fernsehregisseur. 1983 zog er mit seiner Familie nach München.
Hatten Sie für die Familie ein eigenes Bett?
Ich lag neben meiner Mutter. Auf so einer Etage lag ein Mensch neben dem andern, in diesem Raum nur Frauen, in einem anderen die Männer.
Wie sah der Alltag aus?
Der Alltag bestand aus nichts. Für uns Kinder war er nicht schrecklich, weil wir in diesem Raum mit 500 Menschen viel Liebe und Zuwendung erfahren haben. Am eigenen Leibe haben wir Kinder nichts Schlimmes erleben müssen. Die Menschen haben uns alle beschützt, in die hinteren Reihen geschoben.
Aber den äußeren Druck müssen ja auch die Kinder gespürt haben.
Wir haben es vor allem diese endlosen Appelle gesehen: Jeden Morgen mussten wir alle strammstehen. Dann lief die SS auf und ab und wir wurden gezählt. Jeden Morgen. Diese Appelle dauerten manchmal Stunden. Keine Ahnung, wie ich das ausgehalten habe. Ich war in der Zeit nicht einmal erkältet. Es ist phänomenal, was in so einer Situation für Abwehrkräfte möglich sind.
Hat sich die Situation auf das Verhalten der Kinder untereinander ausgewirkt?
Ich weiß nur, dass ich mit den anderen Kindern immer gespielt habe. Einmal hockte ich mit anderen polnischen Buben am Hinterrad eines Lkw-Anhängers und wir haben diskutiert, wie das mit dem Ventil funktioniert. Wie kommt denn die Luft in den Reifen? Das war für uns interessant und faszinierend. Absolut nicht beachtet haben wir, dass dieser Anhänger voll gepackt war mit Leichen, nackten Leichen. Darüber haben wir überhaupt nicht gesprochen. Denn durch den Zaun hindurch und auch im Lager selbst haben wir ja täglich Leichen gesehen.
Wann ist Ihnen bewusst geworden, dass Sie das ignoriert haben?
Später, als ich gefragt wurde. Zum Glück war ich ein Meister im Verdrängen. Ich habe auch keine Traumata bekommen und keine schrecklichen Erinnerungen. Direkt nach der Befreiung hatte ich immer denselben merkwürdigen Albtraum: Mir träumte, dass ich in einen schwarzen Trichter falle. Und wenn ich richtig gefallen war, wachte ich schreiend auf. Der Albtraum verschwand aber nach einiger Zeit.
Sind im Laufe Ihres Lebens Erinnerungen hochgekommen, an die Sie überhaupt nicht mehr gedacht hatten?
Es sind Erinnerungen gekommen, aber es ist nicht viel, weil meine Eltern nichts erzählt haben.
Und Sie haben auch nicht gefragt?
Ich habe nicht gefragt. Das ist, glaube ich, auch normal. Leider. Meine Tochter und meine Enkel fragen auch nicht.
Wie haben sich die Wachleute im Lager verhalten?
Man hatte immer Angst vor der SS. Die Erwachsenen haben uns eingeschärft: Schaut den Hunden nie in die Augen und schaut den SS-Leuten nie ins Gesicht. Beides ist lebensgefährlich.
Und das war es auch für Kinder?
Auch für Kinder. Seitdem habe ich auch Angst vor Schäferhunden. Die Hunde waren fast so groß wie ich. Eine Sache hat mich fasziniert: Da war ein SS-Mann, der in so einer blöden Hose mit den komischen Ohren auf und abmarschiert, der hatte ein Jojo. Das hatte ich vorher noch nie gesehen. Ich habe immer gern geguckt, wie dieser kleine bunte Ball unter seiner Hand tanzte.
Sie sagten, am Anfang sei es nicht so bedrohlich gewesen, später aber schon.
Ich habe gesehen, wie manche geschlagen wurden. Als wir einmal anstanden nach der Suppe, die aus einem großen Bottich ausgeschenkt wurde, hat der Kapo, der dabeistand, plötzlich die Schöpfkelle genommen, einem Mann auf den Kopf geschlagen, und der brach zusammen. Keiner hat sich gerührt, keiner hat was gesagt. Sie ging weiter, diese miserable Suppenverteilung.
Hatten Sie die Möglichkeit, Ihren Vater zu sehen?
Manchmal lag er mit bei uns. Dann war ich eifersüchtig. Aber begriffen habe ich das nicht. Ich habe lange gebraucht, bis ich ein emotionales Verhältnis zu ihm bekommen habe. Die Mutter war eine sehr tapfere Frau. Bis an ihr Ende habe ich sie bewundert, dass sie vor nichts und niemandem Angst hatte. Irgendwann mal hat sie eine Gurke aufgetrieben. Die hat sie in Scheiben geschnitten, sich aufs Bett gelegt und die Scheiben aufs Gesicht gelegt. Sie war ja sicher, sie würde überleben. Anschließend haben wir die Gurke aufgegessen.
Bei aller Furchtlosigkeit musste sie sich ja verhalten.
Man musste still sein und möglichst nicht auffallen. Bei den Zählappellen haben sie manchmal einzelne Männer rausgenommen: Jeder Achte, jeder Zehnte, jeder Zwanzigste musste raustreten. Mein Vater hat mir später erzählt, dass er so einen siebten Sinn hatte, wenn er da stand. Plötzlich hatte er das Gefühl, jetzt muss ich mich woanders hinstellen. Und dann sah er, er wäre drangekommen. Oft kamen die, die rausgezählt wurden, nicht wieder.
Sind Sie oder Ihre Eltern mal aufgefallen?
Weiß ich nicht. Meine zweite Mutter war eine schöne Frau. Sie hatte hellgraue Augen und hatte – ich weiß nicht, wie sie das zustande gebracht hat – schon im Getto und später auch im KZ immer mit Wasserstoffperoxid ihre Haare gebleicht. Sie lief rum als Blondine mit grauen Augen und hatte einen Blick, der absolut furchtlos war. Das hat sie vielleicht und uns alle so manches Mal gerettet.
Eigentlich müsste sie beim Antreten ja herausgestochen sein.
Vielleicht ist sie aufgefallen als schöne Frau. Ich weiß es nicht. Aber sie hat ja nichts erzählt.
Haben Sie oft an Ihre eigentliche Familie gedacht?
Nein. Die habe ich schnell vergessen. Ich habe auch nur ganz kleine Episoden aus dem Getto in Erinnerung, Was mir geblieben ist, ist das Gesicht meiner Mutter. Mein Leben lang habe ich spontan auf Frauen mit dunklen Augen reagiert. Ich bin überzeugt, das waren die Augen meiner Mutter.
Haben Sie etwas vom Verlauf des Krieges mitbekommen?
Nein. Ich habe noch in Erinnerung, wie wir uns mit den Erwachsenen hingestellt und in den Himmel geguckt haben, als diese Bomberverbände Richtung Berlin flogen und alle hofften, dass möglichst viele fliegen und der Krieg vielleicht bald zu Ende sein wird.
Im April 1945 sind Sie wieder in einen Zug verfrachtet worden.
Diesmal war es ein Güterzug, der kreuz und quer durchs Land fuhr. Irgendwann hielt er auf freier Strecke, die Tür wurde geöffnet, aber diesmal nicht von einem SS-Mann sondern von einem sowjetischen Soldaten. Sie haben uns alle aussteigen lassen und führten uns ins nächste Dorf, nach Tröbitz. Wir haben die Soldaten umarmt, das weiß ich noch. In dem Zug waren 2.000 Menschen, die in dem Dorf einquartiert wurden. Später habe ich erfahren: Es sind 400 in den ersten zwei Wochen gestorben – am ungewohnten Essen und an Krankheiten.
Träumen Sie manchmal von Bergen-Belsen?
Nein, aber ich bin vielleicht eine Ausnahme. Ich habe einen Freund in Amsterdam, der war im selben Lager, ein, zwei Jahre jünger, der brauchte sein Leben lang psychologische Hilfe. Ich überhaupt nicht, was vielleicht an mir liegt, meinem Wesen, meinen Genen aber auch an dieser fantastisch starken Frau.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Wirkung der Russlandsanktionen
Der Rubel rollt abwärts