Regisseur Kaurismäki über "Le Havre": "Ich habe ein Märchen gedreht"

Er ist ein Pessimist mit optimistischer Botschaft: Aki Kaurismäki über den Film "Le Havre", Migration, Nordfrankreich und was so schön am Alter ist.

Aki Kaurismäki: "Wenn du tot bist, bist du tot. Das macht mich froh." Bild: Sputnik Oy/Pandora Film

taz: Herr Kaurismäki, mit Ihrem Film "Le Havre" kehren Sie zu Marcel Marx, dem Protagonisten aus "La Vie de Bohème" zurück. Was hat diese Fortsetzung motiviert?

Aki Kaurismäki: "La Vie de Bohème" von 1992 hat ja kaum jemand gesehen. Ich wollte den Charakter des Marcel Marx wieder zum Leben erwecken, weil er mir, wie der ganze Film, sehr wichtig war.

Er ist ein warmherziger Mensch, der Gutes tut.

Das ist ganz im Sinn der Vorlage von Henri Murger, dem Libretisten von Puccinis Oper "La Bohème". Der letzte Satz bei ihm lautet: "Man ist nur einmal jung." Und Marcel sieht man - wie übrigens auch mir - an, dass seine Jugend vorbei ist. Es gibt also einen persönlichen Bezug. Es war schön, jung zu sein, aber es ist leichter, alt zu sein.

Warum ist das denn einfacher?

Weil man nicht mehr ernsthaft sein muss.

geboren 1957 in Orimattila in Finnland, studierte Literatur und arbeitete als Kellner, bei der Post, als Tellerwäscher und schrieb Filmkritiken, bevor er 1981 mit seinem Bruder begann, selbst Filme zu drehen.

Bekannt wurde er mit den "Leningrad Cowboys" Ende der 80er Jahre. Für viele Filme ("Hamlet macht Geschäfte", "Das Mädchen aus der Streichholzfabrik", "Das Leben der Bohème") arbeitete er immer wieder mit einem festen Stamm befreundeter Schauspieler. Kameramann all seiner Filme ist Timo Salminen.

Aber Marcel ist doch sehr ernsthaft?

Ja, er hat sich eine Moral bewahrt. Das ist aber auch schon das Einzige, was man aus der Jugend bewahren kann. Wenn man als junger Mensch keine Moral hat, wird man sie niemals haben.

Eine weitere Hauptfigur des Films ist die Stadt und ihr Hafen. Haben Sie sich für Le Havre entschieden, weil es so finnisch wirkt?

Oh nein, ich habe versucht, so weit wie möglich von Finnland entfernt zu sein! Aber natürlich ist mein Denken sehr nordisch, und Nordfrankreich hat auch diese nordische Qualität. Ich werde mich nicht mehr zum mediterranen Menschen wandeln, obwohl ich seit 20 Jahren ein Haus in Portugal habe. Zuerst wollte ich den Film in Marseille drehen, aber ich habe dort gar nichts verstanden.

Wie wichtig war das Aussehen der Stadt - man kann ja noch Spuren der Industrialisierung erkennen?

Die Geschichte der Stadt ist sehr traurig. Während der Invasion in der Normandie wurde die Stadt von den Alliierten zerbombt. 60.000 Menschen sind dabei gestorben. Die Stadt wurde regelrecht ausgelöscht. Ich halte das für ein Kriegsverbrechen, selbst wenn es die Absicht gab, die Nazis zu treffen. Le Havre hat das in gewisser Weise nie vergessen. Ich zeige die letzten Überreste der alten Stadt, eine wunderbare Architektur. Nun werden diese letzten Reste auch noch durch Geld zerstört. Die Straße, in der Marcel lebt, existiert mittlerweile nicht mehr.

Sie ist völlig verschwunden?

Sie haben alles abgerissen und neue Gebäude hingestellt. Luxusapartments. Es ist eine Straße mit intensiven Farben.

Das haben Sie dort alles so vorgefunden?

Teile davon haben wir im Studio gedreht. Ich freue mich, dass Sie das nicht bemerkt haben! "La Vie de Bohème" war auch eine Liebeserklärung an den poetischen Realismus der 1930er Jahre.

Bei "Le Havre" denkt man gleich an Marcel Carnés Film "Le Quai des brumes".

Ja, mit Jean Gabin und Michèle Morgan - ich habe versucht, ein Eck des Tischtuchs zu erwischen. Marcel Carné war allerdings ein Mann des Melodrams. Meine Geschichte eignete sich dafür nicht. Also habe ich ein Märchen gedreht.

Mit dem Schauspieler Jean-Pierre Darroussin haben Sie zum ersten Mal gedreht, er spielt den Polizisten. Wie haben Sie ihn zur Kaurismäki-Figur gemacht?

Profis lernen das schnell. Ich habe selbst ein wenig gespielt, als ich noch jünger war. Ich konnte es nicht, aber ich erkenne gutes Schauspiel, wenn ich es sehe. Profis fragen nur nach der Intensität, denn sie haben ihren Text, dadurch ist schon alles sehr klar. Profis sind schneller, billiger und besser.

Müssen Sie sie nicht stets auffordern, den Ausdruck zu minimieren?

Das gibt das Drehbuch schon vor. Ich sage nur, ein bisschen mehr, ein bisschen weniger. Meistens nicht einmal das. Ich versuche, den Ausdruck im unteren Bereich zu lassen - übertriebenes Spiel ist mir zuwider.

Warum gefällt Ihnen Stille so gut?

Menschen reden doch ohnehin zu viel. Aber diesmal gibt es ja genug Dialog.

Der immer sehr literarisch ist.

Ich habe ein einziges Mal versucht, so zu schreiben, wie man normalerweise spricht. Es hat überhaupt nicht funktioniert. Ich nehme lieber die Strafe auf mich, als zu literarisch zu gelten denn als zu trivial.

Das zentrale Thema des Films ist Migration. Wie kam es dazu?

Ich bin ein politisches Tier, das nicht alles akzeptiert, was es sieht. Wenn man schon einen Film über ein Thema macht, dann tanzt man gewissermaßen auf einem Strick: Der Film sollte nicht nur unterhaltsam sein, sondern auch Stellung beziehen. Ich verstehe Filme nicht, die nichts zu sagen haben. Sogar eine schlechte Botschaft ist besser als gar keine.

Sie haben sogar eine sehr optimistische Botschaft.

Je skeptischer ich selbst werde, desto optimistischer sind meine Filme. Das ist seltsam, wo ich doch ein zynischer Mensch bin. Ich kann mir keinerlei Zukunft für die Menschheit ausmalen. Doch da ich dieses Faktum akzeptiert habe, dachte ich, man könnte zumindest optimistischere Filme machen.

Ich habe einmal gelesen, dass Sie in den 1970ern selbst daran dachten, Politiker zu werden.

Nein, das stimmt nicht, ich habe damals bloß zu meinen Freunden gesagt: "Wir werden keine Politiker. Doch wenn wir es nicht tun, dann werden es die Idioten tun." Und das ist dann auch passiert. Niemand wollte sich opfern.

In all Ihren Filmen arbeiten Sie mit dem Kameramann Timo Salminen. Das muss schon eine sehr intuitive Form der Zusammenarbeit sein.

Wir reden nicht allzu viel. Manchmal abends. Meistens pfeifen wir uns nur zu (pfeift). Wir haben einmal einen Stummfilm gedreht, da hat die ganze Crew nur gepfiffen. Das war ein Spaß.

Die Kamera, die sie benutzen, soll sehr alt sein.

Ich habe zwei Kameras, die eine ist älter als die andere. Meistens verwenden wir die ältere. Sie hat nichts Digitales in sich.

Werden Sie nicht eines Tages wechseln müssen?

Nein, ich bin schon zu alt. Das digitale Bild kann schärfer, farbintensiver, ja, was auch immer sein: Es ist tot. Die Oberfläche des Bildes lebt nicht. Kino ist ein Spiel aus Schatten und Licht. Das Digitale ist Elektrizität. Michèle Morgan kann man sich nicht auf einem digitalen Bild vorstellen.

Sie haben einmal gesagt, Sie seien kein Filmemacher, sondern Sammler. Was fasziniert Sie so an Dingen der Vergangenheit?

Ich bin selbst ein Ding aus der Vergangenheit. In diesem Leben werde ich mich nicht an die Gegenwart gewöhnen.

Glauben Sie denn an ein nächstes?

Nein, tue ich nicht. Wenn du tot bist, bist du tot. Das macht mich froh. Wie schrieb schon Raymond Chandler in The Big Sleep: Es ist egal, wo man liegt, wenn man tot ist.

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