Regisseur Jan Bosse & Armin Petras: "Sehnsucht nach der totalen Krise"
Jan Bosse und Armin Petras haben "Anna Karenina" auf die Theaterbühne gebracht. Ein Gespräch über große Gefühle und Selbstironie.
Das Intendantenbüro des Maxim Gorki Theaters in Berlin, unweit von der Straße Unter den Linden. Draußen zwitschert ein Vogel. Am Fenster ein Schreibtisch, bedeckt mit Stücketexten, Notizzetteln und Kopien aktueller Theaterkritiken. Daneben ein Tisch, dessen eine Hälfte von Büchern frei geräumt ist, um darauf Kaffeekannen und Mineralwasserflaschen zu platzieren. An dem Tisch drei Männer Anfang, Mitte vierzig - der Intendant Armin Petras, sein Hausregisseur Jan Bosse und der Journalist
taz.mag: Herr Bosse, nun haben Sie in kurzer Zeit Goethes "Werther", Kleists "Amphitryon" und eben "Anna Karenina" inszeniert. Drei Ehebruchsgeschichten also, Affären, Beziehungskrisen …
Jan Bosse: Ein in der Dramatik häufig behandeltes Thema.
Klar. Aber ich dachte , man könnte Ihnen das Vorhaben einer Archäologie der Gefühle unterstellen.
Bosse: Das klingt gut. Aber auch etwas privatistisch. Wir wollten diese Themen schon in einen größeren Rahmen stellen. Was nicht einfach ist, denn von Betrug und Affären wird heute sonst eher im Bereich von Soap-Operas erzählt.
Geschichten über Gefühle sind trivial geworden?
Bosse: Sie werden meist in trivialen Rahmen erzählt, ja. Zugleich gibt es bei Tolstoi aber eine Größe der Krisen und eine Tiefe der Figuren zu entdecken, die im Fernsehen kaum stattfinden könnten. Deshalb macht es einen so ungeheuren Spaß, diesen Roman zu lesen, abgesehen vom Schaudern des Sich-selbst-Wiederentdeckens, das man dabei erleben kann. Also, den Begriff "Archäologie" finde ich passend. Aber nicht nur der Gefühle, sondern der Beziehungen. Das beinhaltet mehr, weil es auch um die Beziehungen des Individuums zum Gesamten, zur Gesellschaft, geht.
"Anna Karenina" umfasst in meiner Ausgabe 1.206 eng bedruckte Seiten. Ist es nicht ein bisschen verrückt, diesen Roman für das Theater zu adaptieren?
Bosse: Na ja. Die Ruhrfestspiele hatten das Thema Russland und Amerika und wollten eine Inszenierung von mir haben. Zunächst habe ich mit dem Gedanken gespielt, "Doktor Schiwago" zu inszenieren - also einen amerikanischen Stoff, der eigentlich ein russischer ist oder umgekehrt. Das würde ich immer noch gern irgendwann machen. Gleichzeitig gab es den Gedanken, etwas für die Schauspielerin Fritzi Haberlandt zu finden, also eine große Frauenrolle. Und dann fiel das Stichwort Tolstoi.
Sie steigen gerne groß ein?
Bosse: Ich wollte schon einen Archetypus finden. Und natürlich habe ich Freude an großen Titeln, ob "Faust", "Hamlet" oder "Werther". "Anna Karenina" ist doch auch so ein Monster von Roman, bei dem man nie weiß: Hat man ihn überhaupt je gelesen? Und wenn ja, hat man es geschafft, ihn auch durchzulesen? Man meint, diesen Roman zu kennen, aber wenn man ihn wirklich liest, merkt man, dass man ihn gar nicht kennt.
Die Arbeitsteilung war so, dass Sie, Herr Petras, die Stückfassung hergestellt haben. Sieht man die Inszenierung, hat man den Eindruck: Sie haben aus dem Gesellschaftsroman ein Kammerspiel gemacht.
Armin Petras: Wir haben versucht, die Geschichte zu extrahieren und vorsichtig ins Heutige zu übersetzen. Das geht ganz gut. Denn es gibt auch heute solche Staatsminister wie diesen Karenin im Roman. Ich glaube, dass sich heutige Angestellte von Ministerien oder Medienmenschen in Tolstois Figuren wiederfinden könnten. Der Grundgedanke bei der Bearbeitung war, die Geschichte einer solchen gesellschaftlichen Schicht zu reflektieren, was für uns als in Berlin-Mitte angesiedeltes Theater wichtig ist. Beim Machen fanden wir es dann gar nicht schwer, denn Geschichten von Gefühlen und Liebe und Auseinandersetzungen stehen in dem Roman sehr schön drin. Da konnte man schauen: Wie verschieden sind die Wege, mit solchen Dingen umzugehen?
Mich hat beim Lesen am meisten überrascht, dass Tolstoi gar nicht wertet. Er will allen Figuren gerecht werden, also nicht nur Anna, sondern auch ihrem betrogenen Ehemann.
Bosse: Das ist so modern! Es gibt bei Tolstoi keine Bösen, keine Schlächter von nebenan. Er schildert Figuren, die unglaublich darum strampeln, gut zu bleiben, obwohl sie Schuld auf sich laden oder wenigstens das Gefühl von Schuld. Die Kluft zwischen den Schuldgefühlen und den tatsächlichen Taten ist riesig. So viel Schlimmes geschieht in dem Buch ja gar nicht. Eine Frau, Kitty, bekommt nicht den Mann, den sie möchte. Eine andere Frau, Anna, betrügt ihren Mann. Nun gut. Aber die Figuren zerfleischen sich selbst in Scham und Schuldvorwürfen, als hänge das Schicksal der Welt von ihrem Verhalten ab. Alle strengen sich unglaublich an, wieder in Ordnung zu kriegen, was ihnen zwischen den Fingern zerrinnt. Man könnte auch sagen, das sind moderne Menschen, deren Leben zur Soap geworden ist. Und sie spüren das und leiden unendlich darunter.
Haben Sie jemals "Romeo und Julia" inszeniert?
Bosse: Noch nicht. Manchmal denke ich darüber nach, ob man dieses Stück nicht von seinem Klischeebild erlösen müsste.
DER STOFF
Armin Petras hat "Anna Karenina" von Leo N. Tolstoi für die Bühne bearbeitet. Seit Ende Mai führt er die sieben Hauptfiguren im Maxim Gorki Theater in einen bitteren Reigen der Gefühle und erzählt von ihrer verzweifelten Sucht nach dem individuellen Glück. Neben Fritzi Haberlandt als Anna Karenina stehen Ronald Kukulies als ihr Mann Karenin, Bernd Michael Lade als Oblonski und
Milan Peschel als Graf Wronski auf der Bühne. Regie führt Jan Bosse.
Die nächsten Termine in dieser Spielzeit sind am 1. und 2. Juli um 20 Uhr im Maxim Gorki Theater in Berlin,
im Herbst dann wieder dort am 5. und am 6. September.
Verfilmungen: 1927 eine Stummfilmversion von "Anna Karenina" unter dem Titel "Love" mit Greta Garbo in der Hauptrolle unter der Regie von Edmund Goulding. Für den amerikanischen Markt wird ein Happyend gedreht, in dem Anna und Wronski glücklich werden. Für den europäischen Markt bleibt es bei dem tragischen Finale. 1935 übernimmt Greta Garbo noch einmal die Rolle der Anna Karenina, diesmal für die gleichnamige US-Produktion von David O. Selznick unter der Regie von Clarence Brown. Die Presse witzelt: "Karenina spricht." Die Adaption leidet von Anfang an unter den rigiden Zensurvorschriften dieser Zeit. 1948 versucht sich Vivien Leigh in der Rolle der Anna Karenina. Regie führt Julien Duvivie nach dem Buch von Jean Anouilh. Nach diversen Fernsehversionen bringt Bernard Rose 1997 mit Sophie Marceau "Anna Karenina" ins Kino. Dieser Film ist die erste westliche Produktion von "Anna Karenina", die tatsächlich in Russland gedreht wurde. DER ROMAN "Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich." Damit beginnt "Anna Karenina", der achtteilige Roman von Leo Tolstoi, erschienen 1877/1878. Er erzählt die Geschichte dreier Familien: von Fürst Oblonski und seiner Frau Dolly, von deren Schwester Kitty Schtscherbazkaja und dem Gutsbesitzer Lewin sowie von Anna Karenina, der Schwester des Fürsten Oblonski, und ihrem Gatten, dem Staatsbeamten Karenin. Die Handlung beginnt damit, dass Anna Karenina der betrogenen Dascha rät, sich von ihrer Liebe leiten zu lassen. So gelingt Dascha die Rettung der schon ruiniert geglaubten Ehe. Kitty Schtscherbazkaja hingegen liebt Lewin, dessen Antrag sie zu Beginn des Romans wegen ihres Standesunterschieds nicht annimmt. Als sich der von Kittys Mutter als akzeptabel befundene Graf Wronski kurz darauf in Anna Karenina verliebt, stürzt Kitty in eine Krise. Während Kitty schließlich Lewin heiratet, führt Annas Liebe zu dem Grafen zum Bruch mit Karenin. Von der Gesellschaft ausgeschlossen, zieht sich das Liebespaar auf ein Landgut zurück, wo beide bald feststellen, sich selbst nicht zu genügen. Am Ende begeht Anna Karenina Selbstmord, und Wronski zieht in der Gewissheit, dass sein Leben ohne Anna keinen Sinn hat, in den Krieg. Die Handlungsschwerpunkte dieses Romans bilden zum einen die scheiternde Beziehung der Karenins, zum anderen die glückliche Ehe Kittys mit Lewin. Thema des Romans sind neben der Liebe die Familie und der Sinn des Lebens. Innerhalb der Sinndebatte steht auch die Frage, wer den Sittenkodex aufstellt, wer ihn einzuhalten hat und wie Abweichungen sanktioniert werden. DIE MACHER JAN BOSSE, geboren 1969 in Stuttgart, studierte an der Hochschule "Ernst Busch" in Berlin. Zwischen 2000 und 2005 war er Hausregisseur am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Darüber hinaus inszeniert er am Schauspielhaus Zürich und am Burgtheater Wien. Seit der Spielzeit 2007/2008 ist er Hausregisseur des Maxim Gorki Theaters. ARMIN PETRAS, geboren 1964 in Meschede im Sauerland, ist Theaterregisseur und Dramatiker. Seine erfolgreichsten Theaterstücke veröffentlichte er unter dem Pseudonym Fritz Kater. Seit Beginn der Spielzeit 2006/2007 ist Petras Intendant des Berliner Maxim Gorki Theaters. Dort adaptierte er auch Fatih Akins Spielfilm "Gegen die Wand" als Schauspiel.
Bei "Romeo und Julia" gibt es doch wirklich die triviale Situation. Die Liebe ist hier im Prinzip in Ordnung. Nur dass die böse gesellschaftliche Ordnung sie am Erblühen hindert.
Bosse: Eine schön künstliche Konstruktion, allerdings …
Aber bei "Anna Karenina" ist die Situation anders?
Petras: Gesellschaftliche Ächtung spielt durchaus eine Rolle. Über die Ehebrecherin Anna wird eine Art Tabu verhängt. Nur dass wir diesen Aspekt in unserer Bearbeitung eliminiert haben.
Bosse: Das war unser Hauptzugriff. Das Klischee über "Anna Karenina" besagt ja, dass die gesellschaftliche Tabuisierung von Ehebruch sein Hauptthema sei. Man könnte also denken, dass von dem ganzen Buch nicht viel übrig bleibt, wenn man dieses Thema herauskürzt.
Zum Klischeewissen gehört auch, dass Anna deshalb Selbstmord begeht, weil sie gesellschaftlich geächtet ist.
Bosse: Aber das stimmt selbstverständlich alles überhaupt nicht. Das große Problem ist die Liebe selbst und die Frage, ob sie überhaupt lebbar ist.
Petras: Zum Beispiel ist der Roman viel moderner als ein Emanzipationsstück wie "Nora". Bei Ibsen existiert das Problem gar nicht, dass zwei Menschen auf Augenhöhe versuchen müssen, mit ihren Gefühlen klarzukommen. Bei Ibsen gibt es nur eine Zwangssituation, die logischerweise zum Ausbruch führt.
Bosse: Dagegen geht es bei Tolstoi um nichts anderes als darum, sich jeweils mit den eigenen Gefühlen auseinanderzusetzen. Die Zwänge haben sich eben längst verlagert. Sie sind ins Innere der Figuren gerückt. Jede Figur baut seine eigenen Moralvorstellungen zur Ideologie aus. Ihre Glücksvorstellungen projizieren sie ins Überdimensionale - meistens anhand eines anderen Menschen, der damit aber längst nicht mehr selbst gemeint ist, sondern es geht nur um das Bild, das man sich von dem jeweils anderen macht. Außerdem existiert dieser gesellschaftliche Glücksterror, der in einen Widerspruch zu der Sehnsucht gerät, ungefragt die Modelle von Ehe und Familie weiterzuleben. Das alles zusammen funktioniert nicht mehr.
Beschreiben Sie jetzt die Situation bei Tolstoi oder unsere Gegenwart?
Bosse: Beides. Bei Tolstoi steht das alles schon drin.
Haben uns Summer of Love und die sexuelle Revolution nicht etwas anderes versprochen - dass Beziehungen unkompliziert sein könnten?
Petras: Da warst du noch nicht einmal geboren. Da kannst du jetzt gar nichts drüber sagen, oder?
Bosse: Doch, ich könnte von meinen Eltern erzählen. Oh Gott, über die will ich jetzt aber wirklich nichts Privates sagen. Von einem Bekannten hörte ich, dass er mit der Mutter seiner Kinder weiterhin zusammenlebt, obwohl die Liebe aufgehört hat. Irgendwann hatte sie einen Freund, und er hatte eine Freundin, aber sie sind zusammengeblieben. Die Kinder wussten davon. Bisschen heikel, die Konstruktion, aber alle Beteiligten haben es vorläufig akzeptiert.
Stichwort Patchwork.
Bosse: Ja, aber als Patchwork zusammenbleibend, so etwas hatte ich vorher noch nie gehört. Unglaublich, wie sie das hinkriegen! Sie müssen eine große Souveränität gegenüber sich selbst und ihren Gefühlen haben. Sie müssen sehr gelassen unverletzbar sein. Aber zur Frage: Ja, von dem Versprechen der Unkompliziertheit ist wenig geblieben.
Petras: Die Illusion ist leicht zu benennen. Sie bestand darin, dass eine Veränderung von sexuellen Konstellationen auch gesellschaftliche Konstellationen ändert. Aber das tut sie eben überhaupt nicht. An der Macht des Kapitals und seiner Strukturen hat sich, seitdem Tolstoi diesen Roman schrieb, überhaupt nichts geändert. An einer Figur wie Karenin kann man das gut sehen. Seine Abhängigkeit vom dem, was in seinem Ministerium geschieht, ist ungeheuerlich. Er ist jenseits von Freiheit, obwohl er das meiste Geld hat. Deshalb ist für mich auch Lewin die sympathischste Figur.
Der mit sich selbst hadernde Gutsbesitzer? Warum?
Petras: Er zieht sich auf sein Landgut zurück und hat zumindest die Chance auf einen Ausstieg. Aber auch das ist für uns heute absurd. Man kann sich nirgendwohin zurückziehen, überall wird man von seinen Problemen eingeholt.
Vielleicht unterscheiden sich unsere Lesarten des Romans. Ich habe herausgelesen, dass Lewin und seine Kitty durchaus eine erwachsene Beziehung zu leben lernen. Erzählt Tolstoi hier nicht von der Möglichkeit, den Projektionen zu entkommen und einen Reifeprozess zu durchlaufen?
Petras: Ich habe in diesen Figuren immer Tolstoi selbst und seine Frau gesehen. Er hat sich in ihnen ja porträtiert. Und ich finde es schwierig, in der Autorfigur das mögliche Lebbare zu sehen.
Bosse: Gegenüber den Schauspielern habe ich diesen Komplex ambivalent zu formulieren versucht. Die schaffen das immerhin! Bei aller Verkorkstheit kriegen sie es hin, ein Paar zu werden! Im Verlauf der Proben ist das aber negativer geraten, als ich es anlegen wollte. Mag sein, dass das an den Notwendigkeiten des Theaters liegt. Wir haben keine tausend Seiten Raum, um eine Entwicklung zu beschreiben. Wir müssen das eindeutiger gestalten, als es in einem Roman geschildert werden kann. Es kam während der Proben aber auch das Gefühl auf, dass dieser Handlungsstrang von einer riesigen Lüge handelt.
Inwiefern?
Bosse: Vor allem der Schauspieler des Lewin hat von der ersten Probe an gesagt: Das ist doch nicht Liebe, was diese Figuren voneinander wollen! Er hat sich dann immerhin davon überzeugen lassen, dass sich Kitty und Lewin zumindest selbst davon überzeugen wollen, dass es zwischen ihnen um Liebe geht. Tja, was ist das schon: wahre Liebe!
Kitty geht zum Ende des Romans hin sehr in ihrer Mutterschaft auf.
Bosse: Aber sie hat Schwierigkeiten mit ihrer Rolle als Gutsherrin. Und Lewin hat Selbstmordgedanken. Das ist schon hart. Er fühlt sich glücklich und denkt die ganze Zeit über den Tod nach. Und dann diese gigantische Geburtsbeschreibung! Für Lewin das Schlimmste, was er je gesehen hat. Er will damit nichts zu tun haben. Andauernd erzählt Tolstoi von Entfremdung, auch in diesem Strang. Eine Zeit lang schaffen es seine Figuren, die Entfremdung wegzudrängen und sich selbst irgendwo zu Hause, heimisch zu fühlen. Aber die Entfremdung von sich selbst kommt immer wieder zurück.
Bei der sexuellen Revolution gab es noch eine Emanzipationshoffnung. Platt gesagt: Das Einzige, was zum Glück fehlt, ist gesellschaftliche Emanzipation. In Ihrer Inszenierung wirken die Figuren nicht unemanzipiert, aber die Probleme hören nicht auf.
Petras: Würde ich genau so sehen. Die Radikalität der Konflikte ist zwar scheinbar kleiner geworden, aber dafür steckt die neue Unübersichtlichkeit schon mal im Detail. Um ein Leben zu zerstören, reicht es bei Tolstois schon aus, dass eine Frauenfigur zehn Jahre älter aussieht als eine andere.
Bosse: Und bei Konflikten zwischen Männern wird doch irgendwann der Neandertaler herausgeholt, weil man sich bei aller Zivilisiertheit plötzlich doch als Todfeind begreift. Manche archaische Muster sind ganz und gar nicht verschwunden.
Das klingt nicht hoffnungsfroh.
Bosse: Wenn man übersichtlichere Situationen beschreiben wollte, müsste man eher ein gesellschaftskritisches britisches Gegenwartsstück als beispielsweise Kleists "Amphitryon" inszenieren. Aber ich finde es eben wichtig, von Figuren zu erzählen, die eine Klarheit über sich selber nicht von vornherein besitzen. Wir sind doch heute Meister der Projektion! Die Figuren erschaffen sich Feinde, um sich dann wieder von ihnen abgrenzen zu können. Man bastelt sich heutzutage seine Dämonen selber, um sie dann schön bekämpfen zu können, weil man sich sonst selbst gar nicht mehr verorten kann. Das empfinde ich als ein riesiges Problem unserer Zeit.
Petras: In vielen Theaterkritiken spürt man das ganz gut. Manchmal ist geradezu eine Sehnsucht zu greifen: Bitte, schafft doch wieder klare Feindbilder! Offenbar existiert eine Sehnsucht danach, sich auf dem Theater nicht in aller innerer Zerrissenheit selbst gespiegelt zu bekommen.
Bosse: Na ja, manches an meinem Ansatz ist auch wirklich gewöhnungsbedürftig. Denn das Theater bedeutet Dramatik, und der dramatische Widerspruch zwischen Schwarz und Weiß gibt ziemlich viel her. Nur dass die Wirklichkeit sich geändert hat. Die Widersprüche sind heute alle gräulich. Solche Graustufen sind sehr schwer in Dramatik zu fassen. Das ist einer der Gründe, warum epische Erzählweisen im Theater so überhandgenommen haben. Ich gehöre jetzt ja schon zur dritten Generation von Theatermachern, die sich viel mit Romanen beschäftigen.
Im Zweifel stellen Sie das Theatralische hintan, um heutige Konflikte beschreiben zu können?
Bosse: Ambivalenz zu untersuchen in einem Medium, das auf Dramatik angewiesen ist, darum geht es.
Petras: Allein zu dieser Frage könnten wir sofort einen ganzen Kongress veranstalten. Wobei aber viele Kritiker genau diese Ambivalenzen eben nicht haben wollen. Sie wollen ihren Dostojewski wiederhaben. Im Grunde wünschen sie sich große Gefühle, also Oper.
Bosse: Und Politik, oder?
Petras: Politik kann schon noch vorkommen. Aber das Entscheidende sind große Gefühle, und eigentlich leistet das heutzutage doch nur noch die Oper. Wobei ich mich frage: Was sind denn große Gefühle heute? Und welche Berechtigung haben die? Vielleicht sind große Gefühle ja tatsächlich der Gegenentwurf zu unserer heutigen Gesellschaft, die große Gefühle nicht mehr möglich macht, weil die Funktionsketten so extrem ausgefeilt sind und wir total in sie eingebunden sind.
So ganz klein sind die Gefühle bei Tolstoi keineswegs. Karenin, der betrogene Ehemann, scheint geradezu nach Möglichkeiten zu suchen, seine Tragik auch ausleben zu können. Nur geht das nicht mehr richtig.
Bosse: Ich meine auch, die großen Gefühle entstehen immer noch. Aber das tun sie nur in wirklichen Lebenskatastrophen. Es entsteht dann so eine euphorisierte Aufgeregtheit, in der man realisiert: Das ist ja jetzt alles total schlimm! Aber für einen Moment ist es auch das pure Leben, man spürt sich plötzlich wieder. Von da aus gibt es vielleicht sogar eine unbewusste Sehnsucht nach der totalen Krise.
Diese Figur des betrogenen Ehemannes fand ich in allen drei Inszenierungen interessant. Den Albert im "Werther", der bei Goethe kaum Eigenleben entwickelt, wird von Ihnen zum Beispiel sehr ernst genommen.
Petras: Albert ist meine Lieblingsfigur in der Inszenierung.
Bosse: Manchen Zuschauern aber ist er zu lustig geraten. Mir war es aber wichtig, dass er eine größere Rolle bekommt als im Roman. Da ist er ja wirklich nur der Spießer.
Auch in vielen trivialen Zusammenhängen werden betrogene Ehemänner als langweilig geschildert. Oft wird er von den sie betrügenden Frauen zu Recht nicht mehr geliebt.
Bosse: Er hat selbst eben nie wirklich geliebt, denkt man sofort. Er kann auch nicht wirklich lieben. Gegen solche Figurenklischees muss man schauspielerisch sehr angehen. In meiner Fassung übertrage ich Textpassagen, die im Roman Werther zugeordnet sind, auf Albert. Dadurch wird bei ihm plötzlich der Versuch erkennbar, zu verstehen, was in seiner Beziehung zu Lotte nun eigentlich genau passiert ist. Und er ringt darum, den Bereich zu füllen, der Lotte an ihm offenbar fehlt.
Petras: Und bei Tolstoi hat mich schon immer geärgert, wie platt Karenin gesehen wird. Noch schlimmer bei den Verfilmungen dieses Stoffes, die ihn nur noch als gefühlskalten Mann zeichnen. Dagegen habe ich in mir geradezu eine Sehnsucht wahrgenommen, ihn so John-Travolta-mäßig wie möglich zu begreifen. Ich wollte ihn als liebenswürdigen, großartigen, gut aussehenden Mann schildern, bei dem es eigentlich gar keinen Grund gibt, ihn nicht mehr zu lieben.
Bosse: Außerdem nimmt er seine Arbeit sehr ernst.
Petras: Stimmt. Er versucht wirklich, etwas für einen Eingeborenenstamm am Ural zu tun. Genau das wird ihm für seine Karriere zum Verhängnis.
So viel zu den Ambivalenzen beim Betrogenen. Und wie ist das mit dem Betrug? Wo ist da der Trigger?
Bosse: Für den, der es tut? Ich fand es von Anfang an interessant, nicht davon auszugehen, dass Anna oder Lotte schon immer unglücklich waren.
Sondern?
Bosse: Ich glaube schon, dass man die Sehnsucht nach einer Amour fou ernst nehmen muss. Menschen sind einfach nicht zu verstehen ohne die Sehnsucht nach dem Irrationalen, danach, dass es wie der Blitz einschlägt, dass es die Liebe auf den ersten Blick tatsächlich gibt.
Auch in dieser Hinsicht erkennen Sie sich bei Tolstoi wieder?
Bosse: Ich bin ein totaler Hirnmensch. Ich glaube eigentlich nicht, dass mir so etwas passieren kann. Dass ich jetzt gleich auf der Straße die eigentliche Frau meines Lebens kennenlerne und dann alles andere hinter mir lasse - ne!
Aber?
Bosse: Aber reden wir doch mal über heutige Männer Anfang vierzig. Bei so vielen von ihnen geschieht so etwas. Da kann es eigentlich gar nicht sein, dass es bei mir nicht sein kann. Es ist einfach zu unwahrscheinlich, dass man damit nichts zu tun bekommt.
Aber auch Ihre Anna und Ihre Lotte sind nicht eindeutig gekennzeichnet. Die Ambivalenz besteht in ihren Fällen darin, dass es eine Sehnsucht nach großen Gefühlen gibt und zugleich eine große Angst davor?
Bosse: Wahrscheinlich. Man spürt doch, dass man ja nicht zu viel lieben darf, um nicht so verletzbar zu sein. Man hasst ja auch nicht zu viel, um nicht zu viel kaputt zu machen. Die Mittelmäßigkeit ist doch unser Lebenskonzept geworden, was ich überhaupt nicht nur negativ meine. Wenn man sich nicht zu viel wünscht, macht das das Leben gleich angenehmer, weil die Wünsche dann erfüllbar bleiben. Aber gelegentlich klingt diese Mittelmäßigkeit einem selbst doch ziemlich nach Stagnation. Und sie klingt auch nach einem sich aufblähenden Ballon, der vielleicht irgendwann explodiert.
Petras: Genau so ein Lebensgefühl beschreiben viele aktuelle Theaterstücke. Meist treffen sich da junge Menschen, und dann gehen sie wieder auseinander, aus Angst, miteinander zu leben, und fertig ist das Stück. Teilweise existiert überhaupt keine Verbindung zwischen den Figuren mehr. In der Realität ist es ja auch wirklich nicht einfach. Man projiziert, sonst kann man nicht lieben, und mit der Zeit bekommt das Projektionsbild, einen, sagen wir, Flecken, und um das aushalten zu können, bedarf es jahrelangen Trainings.
Aber Lösungen haben Sie natürlich auch nicht anzubieten?
Bosse: Für Lösungen sind andere Institute zuständig.
Welche Institute?
Bosse: Na, es gibt die Therapeuten, die Kirchen, die Sekten, die Yogagruppen, die Super-Nannys. Das Theater jedenfalls auf keinen Fall.
Dennoch scheinen Sie bei aller Ambivalenz Ihre gute Laune nicht zu verlieren. Ihre Inszenierungen wirken oft tragikomisch.
Bosse: Das ist auch das einzige Genre, das mich wirklich interessiert. Komische Stücke tragisch zu lesen und tragische Stücke komisch - das ist es! Weil ich unser Leben tatsächlich als Tragikomödie empfinde.
Petras: Alles andere wäre auch absurd. Angesichts dessen, wie wir als Nördliche-Hemisphären-Mannschaft leben, mit gesichertem Lebensauskommen, wäre alles andere lächerlich. Selbstverständlich leben wir nicht in einer Zeit des Dramas, sondern der Farce. Ganz klar. Wir wissen von allen Problemen auf dieser Erde, und trotzdem sitzen wir hier gemütlich herum und reden über Theater, statt dorthin zu fahren und sterbenden Menschen zu helfen.
Bosse: Nur dass man sich gelegentlich doch darüber wundert, dass das deutsche Theater gerade eher Humorlosigkeit repräsentiert. Das Bewusstsein der Absurdität oder des Paradoxen unserer Situation hat schließlich etwas mit Selbstironie zu tun. Nicht nur die vorletzte Regiegeneration hat es sich offenbar auf ihre Fahne geschrieben, jede Art von Humor abzulehnen.
Wen meinen Sie?
Bosse: Na, es gibt doch viele Herrschaften, die immer wieder klagen, heute sei alles verweichlicht und nicht mehr ernst zu nehmen. Aber die haben auch keinen Abstand zu sich selber. Dabei ist doch gerade Selbstironie eine der großen Fähigkeiten, die mit dem Bewusstsein zu tun haben, dass man sich selbst nicht absolut setzen sollte.
Apropos Selbstironie: Wenn man etwa Ingmar Bergman als Tragiker der Beziehungen ansieht und Woody Allen als Tragikomiker, dann hat sich in dieser Hinsicht doch viel getan …
Bosse (zu Petras): Dann bist du Bergman, und ich bin Woody Allen.
… nur dass man sich offenbar das Tragikomische immer wieder neu erzählen muss …
Petras (zu Bosse): Nein, du bist Truffaut, und ich bin Godard.
Okay, ich ziehe die Frage zurück.
Bosse: Ich bin ja auch gar kein Woody-Allen-Fan.
Petras: Sag ich doch, Truffaut.
Bosse: Waren das nicht so Psychofilme?
Petras: Ach was. Ganz heitere Liebesgeschichten, die trotzdem unglaublich intelligent sind und damals Millionen Menschen ins Kino holten.
Bosse: Ach, lieber die Coen Brothers.
Die machen eher so etwas wie filmische Comics.
Bosse: Ich finde sie schon gut. Die großen Themen im Comic zu entdecken und den Comic im großen Thema. Und der schwarze Humor in ihren Filmen ist toll. Das kann man schließlich nun wirklich bei "Anna Karenina" sehen: Ohne absurden Humor kommt man noch nicht einmal mit den eigenen Gefühlen klar.
INTERVIEW: DIRK KNIPPHALS
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