Regierungskrise in Österreich: Eine Herrschaft in Türkis
Autoritäre Politik zwischen Selbstdarstellung und Korruption. Peter Pilz analysiert äußerst kenntnisreich das Regime Sebastian Kurz.
Peter Pilz, einst Parade-Aufdecker der österreichischen Grünen, der manchen Skandal an die Öffentlichkeit und vor parlamentarische Untersuchungsausschüsse gebracht hat, ist seit zwei Jahren nicht mehr im österreichischen Parlament. Aber Zugang zu brisanten Akten hat er immer noch. Und die spitze Feder, um komplizierte Sachverhalte pointiert zu formulieren.
In diesen Tagen nach dem Rückzug von Sebastian Kurz aus dem Kanzleramt ist viel vom „System Kurz“ die Rede. Pilz schildert in seinem Buch detailliert, was dieses System ausmacht. Das beginnt mit der erfolgreichen Intrige gegen den eigenen Parteivorsitzenden Reinhold Mitterlehner, bei der auch manipulierte Umfragen eingesetzt wurden, und endet mit der Pandemiebekämpfung und dem islamistischen Terror.
Peter Pilz: „Kurz. Ein Regime“. Kremayr & Scheriau Verlag, Wien 2021, 256 S., 24 Euro
Selbst bei den ernsthaftesten Bedrohungen stehe die Selbstdarstellung und nicht das Interesse der Republik im Vordergrund. Mit professionellen Inszenierungen und strikter Message Control gängelte der Kanzlerbeauftragte für Medien, Gerald Fleischmann, mit einem Team aus 81 Mitarbeitern die Medien. Spurt eines nicht, wird direkt interveniert.
Pilz spricht von „Regime“, weil die Institutionen des Rechtsstaats zum Teil systematisch attackiert und unterhöhlt würden. Vor allem der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft, die hunderttausende SMS- und Whatsapp-Nachrichten von Kurz und dessen engstem Umfeld auswertet, wirft er Unterwanderung durch „linke Zellen“ vor.
Realität im System Kurz
Peter Pilz nimmt für seine Darstellung des Systems Kurz Bezug auf das Ibiza-Video, in dem der ehemalige FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache eine Schablone für illegale Parteienfinanzierung, Medienmanipulation und Korruption entwirft. Was 2017 auf der Baleareninsel ein feuchtfröhlicher Wunschtraum des gestürzten Rechtspopulisten war, ist für Peter Pilz in der ÖVP und im Speziellen beim System Kurz längst Realität.
Mit viel Insiderwissen schildert Pilz, wie der zum Retter einer in den Umfragen darniederliegenden ÖVP hochgeschriebene Sprengmeister der rot-schwarzen Koalition von seinem Pressesprecher auf TV-Debatten und kritische Interviews vorbereitet wird: „Fleischmann entwirft Kurz-Antworten für die kommenden Konfrontationen mit dem SPÖ-Spitzenkandidaten und lässt den Kanzlerkandidaten alle auswendig lernen.“
Noch heute kommen seine Antworten wie aus der Pistole geschossen, weichen oft der Frage aus, attackieren den Interviewer. Ganz selten lässt er sich unvorbereitet auf dem falschen Fuß erwischen. Er gewinnt die Wahlen schließlich, weil er erfolgreich die Antiausländerkampagne der rechten FPÖ kapert und in weniger aggressive Rhetorik bettet.
Das Netzwerk um Sebastian Kurz, das Pilz wie ein Spinnennetz zeichnet, reicht von Saboteuren in anderen Ministerien über ukrainische Oligarchen, österreichische Milliardäre, Beamte im Justizministerium, die auf Zuruf eine Untersuchung einstellen lassen, bis zu willfährigen Journalisten, die für Steuergeld Jubelberichterstattung betreiben.
Wie daraus Korruption wird
Zweimal hat er dank großzügiger Spenden von Unternehmern die erlaubten Wahlkampfausgaben erheblich überschritten. „Das Wesen einer Spende ist“, so Pilz, „dass es keine Gegenleistung dafür gibt. Kann ein direkter Zusammenhang zwischen einer Spende und einer Leistung in Regierung und Verwaltung nachgewiesen werden, wird daraus Korruption.“
Die erste Gegenleistung sei die Senkung der Immobiliensteuer gewesen. Angehörige von Großspendern werden verdächtig oft in Aufsichtsräte berufen. Zu Sebastian Kurz’ begüterten Duzfreunden zählten auch die Wirecard-Chefs Markus Braun und Jan Marsalek, die im Kanzleramt am Wiener Ballhausplatz aus- und eingingen.
Braun sitzt in Deutschland in U-Haft, Marsalek wird per internationalem Haftbefehl gesucht. Ihre Aussage könnte noch Sprengstoff bergen. Wer über den jähen Fall des türkisen Shootingstars überrascht ist, sollte dieses Buch als Hintergrundinformation lesen.
Der Leiter des Bundeskriminalamts Andreas Holzer und Novomatic-Aufsichtsratschef Bernd Oswald wollen das Buch, in dem beide nicht gut wegkommen, gerichtlich beschlagnahmen lassen. Eine bessere Werbung kann sich Pilz nicht wünschen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel