Regierungserklärung: Kanzlerin der Krise
Angela Merkel bekennt sich zu Schuldenpolitik und Kopfpauschale, nebenbei sagt sie Hilfe für Opel zu. Von der Bildungsrepublik dagegen ist nur knapp die Rede.
In welcher Liga sich Angela Merkel sieht, war schon seit Längerem klar. Nur ausgesprochen hat sie es noch nie so deutlich wie an diesem Dienstagmorgen im Deutschen Bundestag.
"Deutschland steht vor einer Bewährungsprobe wie seit der deutschen Einheit nicht mehr", sagte sie in ihrer ersten Regierungserklärung nach der Wiederwahl. Die Fortsetzung dieses Gedankens überließ sie den Zuhörern: Die Kanzlerin, die eine solche Bewährungsprobe besteht, ist historisch so bedeutend wie Helmut Kohl. Mindestens.
Dafür muss die Krise nur groß genug sein, und deshalb bediente sich Merkel am Dienstag der dunkelsten Tonlage. "Der Rückgang ist fünfmal größer als der bislang größte Absturz in der Geschichte der Bundesrepublik", sagte sie. Die Arbeitslosigkeit werde weiter steigen, die volle Wucht der Krise erst im nächsten Jahr zu spüren sein. "Die Probleme werden erst noch größer, bevor sie besser werden." Mehrfach fügte sie hinzu: "Das ist die Lage."
Große Krisen erfordern unkonventionelles Handeln, was sonst. Natürlich wird die Regierung für die Opel-Sanierung zahlen, auch unter der Ägide des amerikanischen Mutterkonzerns. Das kündigte Merkel, wie es ihre Art ist, ganz beiläufig an. "Wir erwarten, dass GM den Hauptanteil der Restrukturierung trägt", sagte sie. Aus dem Merkeldeutsch in Alltagssprache übersetzt, bedeutet das: Wir übernehmen dann den Rest.
Undeutlich blieb in Merkels Vortrag, wie das dunkle Krisenszenario mit den schwarz-gelben Steuer- und Haushaltsplänen harmoniert. Offensiv verteidigte sie die Politik der hohen Staatsverschuldung. Die Kürzung der Ausgaben sei in der Krise keine Alternative, der Erhöhung von Sozialabgaben auch nicht. Für die geplante Steuerreform im kommenden Jahr, das Wunschprojekt der FDP, legte sie sich nur auf zwei Punkte fest. Der Mittelstandsbauch im Steuertarif solle "abgebaut" werden, also offenbar nicht abgeschafft. Und Kinder sollten im Steuerrecht behandelt werden wie Erwachsene, was der geforderten Anhebung des Freibetrags auf 8.004 Euro entspricht.
Deutlicher als zuvor bekannte sie sich zu den Plänen, steigende Kosten für Gesundheit und Pflege allein den Arbeitnehmern aufzubürden. Eine "Entkoppelung von den Arbeitskosten" sei nötig. Das Vorhaben bezeichnete sie als notwendige Antwort auf den demografischen Wandel. Mit der Passage öffnete sie, wie es sonst gar nicht ihre Art ist, ein großes Einfallstor für die Kritik der Opposition.
Ähnliches galt für die Energiepolitik. Merkel bekannte sich zwar zur Priorität der Klimapolitik und kündigte an, möglicherweise selbst zum bevorstehenden Klimagipfel nach Kopenhagen zu reisen, gleichzeitig bekräftigte sie aber, dass die Kernenergie noch gebraucht werde - "und zwar so lange, bis sie durch erneuerbare Energien verlässlich ersetzt werden kann". Auch "neue, hocheffiziente Kohlekraftwerke" trügen zum Klimaschutz bei.
Zur Entwicklungspolitik sagte Merkel, sie sei für die neue Regierung "keine Nebensache". Der zuständige FDP-Minister Dirk Niebel saß unterdessen als einziger ihrer Minister einsam in der dritten Reihe auf der Regierungsbank, neben nachgeordneten Staatssekretären. Nur ganz knapp erwähnte die Kanzlerin die Bildungspolitik, die laut Koalitionsvertrag eigentlich Chefsache werden sollte.
Dafür hat sie jetzt einen Namen für die neue Regierung gefunden. "Christlich-liberale Koalition der Mitte", sagte sie mehrfach, ohne die Wortschöpfung näher zu erläutern.
Katholisch war jedenfalls die Nonchalance, mit der Merkel über die Widersprüche in der Finanzpolitik hinwegging. Zeitgleich zu ihrem Schuldenbekenntnis im Bundestag versprach Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) seinen EU-Kollegen bei einem Treffen in Brüssel, die deutsche Staatsverschuldung von 2011 an wieder abzubauen.
Aber wenn die Krise eine Bewährungsprobe wie die Einheit ist, dann darf man dafür wohl auch Schulden machen, so viele wie einst Kohl. Rund 1 Billion D-Mark waren es damals.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“