Regierungsbildung: Das Dauer-Intermezzo
Nach dem Jamaika-Ende hoffen viele auf die belebende Wirkung einer Minderheitsregierung. Doch diese Lösung schwächt Deutschlands Demokratie
Stephan
Bröchlerist habilitierter Politikwissenschaftler an der Humboldt-Universität zu Berlin und der FernUnversität in Hagen
Deutschland entdeckt die Begeisterung für die Minderheitsregierung. Das war lange Zeit anders. Die Minderheitsregierung hatte hierzulande einen schlechten Leumund. Galt sie doch als Krisenfall der parlamentarischen Demokratie. Gewarnt wurde besonders vor den Risiken instabiler Regierungen und einer Unregierbarkeit wie zum Ende der Weimarer Republik.
Nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen setzt sich mehr und mehr eine neue Sichtweise durch. Die Minderheitsregierung erscheint vielen heute als Schlüssel zur Rettung der parlamentarischen Demokratie. Sie wird von ihren Verfechtern als starke, effektive, stabile, kohärente, langlebige und deshalb kraftvolle Alternative zur Mehrheitsregierung entworfen. So soll sie nicht nur als sichere Brücke für eine Übergangszeit dienen, sondern wird als Zukunftsmodell für Regieren in der Berliner Republik empfohlen.
Die Versprechungen der Minderheitsregierung spiegeln die Wünsche vieler Bürgerinnen und Bürger nach einer lebendigeren parlamentarischen Demokratie wider. Sie soll dem Parlamentarismus neues Leben einhauchen, die Abgeordneten aus dem Fraktionszwang befreien, eine effektive Opposition ermöglichen, das Durchregieren beenden und die Übermacht der Ministerialverwaltung einhegen.
Doch sind die Versprechungen realistisch, dass mithilfe einer Minderheitsregierung das Regieren verbessert und die Demokratie gestärkt wird? Eine kritische Auseinandersetzung darüber findet kaum statt.
Tatsächlich zeigt sich, dass die Verfechter der Minderheitsregierung sich erstens auf empirisch dünnem Eis bewegen und es zweitens fraglich ist, ob eine solche Form des Regierens überhaupt erstrebenswert ist. Ein gravierendes Problem liegt darin, dass den Versprechungen ein solides empirisches Fundament fehlt. Im Bund ist Deutschland eine Koalitionsdemokratie durch und durch. In den fast 70 Jahren seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland gab es lediglich zwei Minderheitsregierungen im Bund. Es waren Intermezzi für eine Übergangszeit. Mitte der 60er Jahre und zu Beginn der 80er Jahre regierten Ludwig Erhard und später Helmut Schmidt für wenige Wochen ohne Mehrheit im Bundestag.
Die Erfahrungen mit Minderheitsregierungen beziehen sich auf einige wenige deutsche Bundesländer und auf skandinavische, süd- sowie osteuropäische Demokratien. Aufgrund der Besonderheiten jedes einzelnen dieser Regierungssysteme lassen sich die Erkenntnisse, selbst im Fall der deutschen Länder, nicht umstandslos als Blaupause auf den Bund übertragen.
Wie erstrebenswert ist also eine Minderheitsregierung? Es lassen sich besonders drei gewichtige Einwände dagegen formulieren. Erstens würde sie die Zurechenbarkeit politischer Entscheidungen für die Bürgerinnen und Bürger erschweren. Um hohe Zurechenbarkeit zu erzielen, trennt die parlamentarische Regierungsform radikal zwei politische Akteure voneinander und weist ihnen dabei unterschiedliche Funktionen zu: auf der einen Seite das Tandem aus Parlamentsmehrheit und Regierung, auf der anderen Seite die Opposition. Regieren bedeutet Richtung geben, lenken, steuern und koordinieren. Demgegenüber sind die Aufgaben der Opposition Kritik, Kontrolle und die Entwicklung von Alternativen zur Regierungspolitik. Eine Minderheitsregierung führt zum gegenteiligen Effekt: Sie verwischt die Grenze zwischen Regierung und Opposition. Denn Opposition wird zum permanenten Mehrheitsbeschaffer für die Regierung.
Fraglich ist zweitens, ob eine Minderheitsregierung die Handlungsmöglichkeiten der Parlamentarier tatsächlich signifikant zu erweitern vermag. Der demokratietheoretische Charme dieses Modells liegt darin, dass die Regierung, um mehrheitsfähig zu sein, gezwungen ist, über die Regierungspolitik mit entscheiden zu lassen. Mitregierung setzt voraus, dass Regierungs- und Oppositionsfraktionen in der Lage sind, getroffene Vereinbarungen durch ihr Abstimmungsverhalten einzulösen. Das bedeutet nichts anderes, als dass auch weiterhin der sogenannte Fraktionszwang erforderlich ist und eben nicht erlischt. Aufgabe der Führungen von Regierung und Opposition wird es gerade unter Bedingungen einer Minderheitsregierung sein, die Parlamentarier auf Linie zu bringen.
Eine Minderheitsregierung läuft drittens Gefahr, die politische Handlungsfähigkeit zu schwächen. Deutschland ist eine Verhandlungsdemokratie, in der politische Entscheidungen in komplizierten parteipolitischen Aushandlungsprozessen innerhalb der Bundesregierung, mit Bundestag, Bundesrat und der EU organisiert werden müssen. Eine Minderheitsregierung verkompliziert die Willensbildung und Entscheidungsfindung, weil sie eine zusätzliche Arena schafft: dauernde Verhandlungen von Regierung und parlamentarischer Opposition. Politisches Entscheiden wird dadurch strukturell aufwendiger und zeitintensiver. Es droht ein Verlust an Sprech- und Entscheidungsfähigkeit der handelnden Regierung auf der nationalen, europäischen und internationalen Ebene.
Schon heute wird in Brüssel aufgrund sich häufender Stimmenthaltungen Deutschlands spöttisch von german vote gesprochen, weil es der geschäftsführenden Regierung zunehmend schwer fällt, politischen Konsens herzustellen.
In der bundesdeutschen Koalitionsdemokratie ist die Minderheitsregierung ein Notstromaggregat der Verfassung, wenn es den Parteien unmöglich ist, im Bundestag eine Koalitionsregierung zu organisieren. Offensichtlich liegt dieser Fall nicht vor. Umso mehr als es den Versprechungen an Realitätsnähe mangelt und die erwartbaren Folgen einer Minderheitsregierung schwer wiegen. Es ist deshalb nicht ersichtlich, warum das größte politische Experiment in unserer Nachkriegsgeschichte zum jetzigen Zeitpunkt gewagt werden sollte.
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