Reggae in Deutschland: Unberechenbarer Transfer

Eine komplette Musikkultur wurde aus Jamaika nach Deutschland importiert. Von der Geschichte dieses Unterfangens erzählt das Buch "Reggae in Deutschland".

Made in Germany: Gentleman. Selbst in Marokko gibt es ein Publikum, das jede Liedzeile von ihm mitsingen kann Bild: dpa

s gibt nicht viele international ernsthaft erfolgreiche deutsche Popstars. Die üblicherweise Genannten wie Kraftwerk, Rammstein und die Scorpions halt, und seit kurzem auch diese aberwitzig beliebte Teenieband, wegen der französische Schüler jetzt wieder freiwillig Deutsch lernen wollen. Und Gentleman. Einen Reggaesänger aus Köln.

Der ist längst weit mehr als eine Obskurität, ein Zufallsprodukt mit begrenzter Halbwertszeit, sondern das mit einer Szene gewachsene Produkt einer globalisierten Welt, in der die Art und Weise von Kulturtransfer immer unberechenbarer geworden ist. Vor Jahren noch wäre es völlig undenkbar gewesen, dass ein Reggaesänger aus Deutschland weltweit bekannt werden, geschweige denn selbst in Jamaika akzeptiert werden könnte. Inzwischen geht das. Natürlich auch dank dem Internet. Gentleman, so wird es in dem eben erschienenen Buch "Reggae in Deutschland" von den Journalisten Olaf Karnik und Helmut Philipps geschildert, hat sogar in Marokko seine Fans, die bei Konzerten seine Lieder mitsingen können.

Es gibt keinen einseitigen Kulturimperialismus, der laut Verschwörungstheorie von MTV, Pepsi und Hollywood angezettelt wurde, sondern die Sache ist längst viel komplizierter. Wie das Beispiel Reggae in Deutschland zeigt, kann inzwischen auch eine ganze Musikkultur aus der sogenannten Dritten Welt in die Erste exportiert werden, sich dort ausbreiten und unter Umständen wieder an den Ursprung zurücksickern. Zwischendrin, sozusagen in der Inkubationsphase, so erfahren wir in dem kenntnisreich zusammengetragenen Buch von Karnik und Philipps, geht es freilich um unzählige Probleme bei der kulturellen Aneignung, um Widersprüche und Missverständnisse, um Fragen nach Affirmation, Mimesis und der üblichen Forderung, doch gefälligst "etwas Eigenes aus dem Anderen zu machen".

Die beiden Autoren versuchen erst gar nicht, einen bestimmten Weg bei der deutschen Adaption von Reggae für geeigneter zu halten als einen anderen. Die Heterogenität einer gewachsenen Szene, die längst über eine gesicherte Struktur an Festivals, Plattenläden, Labels und Clubnächten verfügt, wird überdeutlich. Ein Hans Söllner, der auf bayrisch zu vergleichsweise unbeholfenen Reggaerhythmen gegen die Machenschaften der CSU singt, hat erst mal nichts mit den hohen Produktionsstandards der Berliner Rhythm & Sound zu tun, die sich vom Techno herkommend dem Reggae angenähert haben. Da liegen Welten dazwischen. Dennoch gehören beide Acts zu "Reggae in Deutschland" und damit hinein in dieses Buch.

Von Vorteil dabei ist, dass nicht statisch und kohärent eine bestimmte Geschichte der Ausbreitung von Soundsystems erzählt wird, und wer nun in der deutschen Provinz zuerst versuchte, auf Deutsch zu toasten. Stattdessen werden verschiedenen aktuell interessanten Aspekten einzelne Kapitel gewidmet. Gesprächsrunden zwischen Szeneaktiven ermöglichen einen noch genaueren Einblick in das Geschehen. Das Neben- und Durcheinander dieser Kultur in Deutschland wird so nochmals betont, das Gewachsene phänomenologisiert. Doch diskursivere, "cultural studies"-artige Erklärungsversuche fahren die Autoren dabei stark herunter. Das dient zwar dem Lesefluss, hat aber den Nachteil, dass Themen wie grassierende Homophobie im jamaikanischen Reggae und Dancehall und die Probleme, die sich diesbezüglich bei einer Aneignung dieser Musikrichtungen ergeben, nur immer wieder angeschnitten und nicht ausführlich betrachtet werden. Auch diesem nervigen "Wir sind jetzt wer, auch im Reggae"-Zungenschlag, der bei den Erzählungen von Szeneprotagonisten sehr oft durchschimmert, wird etwas zu affirmativ begegnet. Wenn Seeed und Gentleman erst so richtig durchstarten, dann müssen sich die jamaikanischen Stars aber warm anziehen, immer wieder gerät das Buch in diesen Tonfall.

Und etwas Grundsätzliches bleibt auch im Dunkeln, nämlich woher diese Begeisterung für Reggae und dieses begeisterte Aufsaugen einer Kultur samt deren Codes überhaupt herkommt. Lange Jahre war da nichts, so wird beschrieben, zumindest nichts Nennenswertes. Dann gab es Versuche in den Achtzigern und Neunzigern, teilweise auch künstlerisch gelungene, ohne jedoch den angestrebten kommerziellen Erfolg, bis dann Gentleman und Seeed die Charts neu sortierten. Warum konnte es aber dazu kommen? Solch simple soziologische Fragen - wer genau hört was und warum? - wollten sich die beiden Autoren, die ihr Buch als Szenekenner ganz klar eher für die Szene geschrieben haben, eher nicht stellen.

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