: Reformprozeß und Realitätsverlust
■ Ganztagsschule: GEW und Schulbehörde befehden sich gar heftig Von Patricia Faller
Eltern wünschen sie, SchulpolitikerInnen und PädagogInnen halten sie für sinnvoll: Die Ganztagsschule. 27 davon gibt es zur Zeit in Hamburg, und das müsse erstmal reichen. Neue Gesamtschulen, so Beschlüsse von Senat, Bürgerschaft und Schulbehörde im Dezember vergangenen Jahres, wird es in 1996 nicht geben, weil, so Schulsenatorin Rosemarie Raab, „die Finanzlage eine Politik des Obendrauf nicht länger zuläßt“.
Ganztagsschulen seien aber ungeheuer wichtig, beharrten gestern die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und der Verband der Ganztagsschulen: „Kinder haben heute Probleme, die sich nur dort lösen lassen“, so GEW-Chef Hans-Peter de Lorent. Der Vorsitzende des Ganztagsschulverbandes, Heiner Gehrts, erläuterte dies so: „Die Lebens- und Erfahrungsräume von Kindern werden immer mehr eingeengt, Spiel- und Treffpunkte werden immer weniger.“ Ausländische Kinder könnten in Ganztagsschulen besser integriert und Kinder berufstätiger Eltern pädagogisch besser betreut werden. Der Reiz dieser Einrichtungen liege darin, daß alternative Unterrichtsformen oder freizeitpädagogische Aktivitäten angeboten werden können.
Für de Lorent ist der Ausbau-Stopp „der Einstieg in den Ausstieg aus dem reformerischen Prozeß“. Und eine Abkehr von Wahlversprechen: Hätte die SPD bei den vergangenen Bürgerschaftswahlen noch Ganztagsschulen in sozialen Brennpunkten versprochen, so mache sie jetzt einen Rückzieher.
Die Bürgerschaft verabschiedete 1992 Rahmenbedingungen für die Ganztagsschulen. Jährlich sollten zwei der 420 Hamburger Schulen umgewandelt werden können. Acht neue Ganztagsschulen wurden seit 1991 eingerichtet, zwölf Schulen haben entsprechende Anträge gestellt, darunter vier Grund-, Haupt- und Realschulen, vier Gesamtschulen, drei Förderschulen und eine Schule für Verhaltensgestörte.
„So einen Antrag zu stellen, ist ja kein Spaziergang“, erklärte Bernd Martens vom Ganztagsschulverband. Drei bis vier Jahre dauere es, bis ein Konzept ausgearbeitet sei. Das fängt bei Informationsreisen zu anderen Schulen an und geht weiter mit LehrerInnen-, Eltern- und SchülerInnen-Arbeitskreisen bis hin zu Bauplanungen.
Von einem Stopp für den Ausbau von Ganztagsschulen könne gar keine Rede sein, pressemitteilte die Schulbehörde gestern zurück. Umso mehr aber von einem „zunehmenden Realitätsverlust“ bei der GEW.
Für das laufende Jahr seien immerhin zwei zusätzliche Lehrerstellen und 117 zusätzliche Unterrichtsstunden bewilligt worden, um das Angebot an vier bestehenden Ganztagsschulen zu erweitern. Der Ausbau der bereits existierenden Einrichtungen werde „planmäßig fortgesetzt“. Und was das nächste Jahr betreffe, seien noch gar keine weiteren Sparbeschlüsse gefaßt worden.
Genau die befürchtet aber Heiner Gehrts. Wenn die „reformpädagogische und innovative Bewegung“ jetzt einen Dämpfer erhalte, so warnte er gestern prophylaktisch, dann lasse sie sich später nicht wieder initiieren.
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