: Rechenexempel ausgeschlossen
Keine singuläre Erfahrung: Hamburger „Feuersturm“-Ausstellung in der Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky berührt am Rande das Schicksal weltweiter Bibliotheken sowie von „Beutebüchern“ und zielt auf einen globalisierten Kulturbegriff, der lokale Facetten integrieren kann
von PETRA SCHELLEN
Eine kleine, dezente Ausstellung läuft derzeit in der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek, die nicht weiter auffiele unter den Präsentationen, die derzeit des „Feuersturms“ vom Juli 1943 gedenken, integrierte sie nicht ein Thema, das Historie und Globalisierung zugleich berührt: die Zerstörung und Auslagerung von Kulturgütern. Denn trotz aller Trauer – 1943 verbrannten 700.000 der 850.000 Hamburger Bücher – bleibt die Ausstellung nicht bei den eigenen Verlusten stehen. Vielmehr listet sie – fast verschämt in einer Ecke – exemplarisch weltweite Bibliotheksschicksale auf: Von der Zerstörung der Warschauer Krasinski-Bibliothek durch die Nazis 1944 bis zur Vernichtung der Nationalbibliotheken in Sarajewo (1992) und Bagdad (2003) reichen die Beispiele, die die Hamburger Erfahrung in einen Zusammenhang stellen, der sich weder für Patriotismen noch für Schuldzuweisungen – und schon gar nicht für Rechenexempel eignet. Denn letztlich geht es hier um einen umfassenden Kulturbegriff, der Facetten lokaler Identität integrieren kann, ohne dies als Abgrenzungsargument zu nutzen: Gehört ein Gegenstand an seinen Ursprungsort oder genügt es, wenn er irgendwo öffentlich zugänglich ist? Rechtfertigt der inhaltliche Ortsbezug eines Buchs seine Rückführung? „Gehört“ eine Sammlung in die Stadt, in der sie entstand? Und mit welchem Recht kann Deutschland solche Werke aus Russland zurückfordern, wohin die „Trophäenkommission“ der damaligen Sowjetunion in den Nachkriegstagen etliche Bücher auch aus norddeutschen Bibliotheken brachte?
Fragen, denen sich die Schau in der Hamburger Staatsbibliothek anhand der eigenen Verluste während des Zweiten Weltkriegs nähert, wobei die vorläufige Lagerung der Bücher in Hamburger Bunkern ebenso Thema ist wie die im Frühjahr 1943 begonnenen Auslagerungen aus der Stadt heraus, von denen die wertvollsten – zusammen mit Handschriften aus der Lübecker Stadtbibliothek – nach Schloss Lauenstein in Sachsen gingen. Lübeck nutzte außerdem – wie die Staats- und Universitätsbibliothek Bremen – die Salzgruben bei Bernburg und Wintershall/Grona in Sachsen-Anhalt zur Auslagerung. Keins der dorthin gebrachten Werke kehrte zunächst zurück; sowjetische Experten hatten die Bücher nach Ostberlin, dann in die damalige Sowjetunion transportiert.
Zehn Millionen Bände insgesamt, so die Schätzungen, wurden in den Nachkriegstagen als „Beutegut“ in die damalige Sowjetunion gebracht. „Über das weitere Schicksal dieser Bücher wussten wir lange Zeit nichts“, sagt Otto-Ernst Krawehl, Leiter der Erwerbungsabteilung der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. Bruchstückweise tauchten später Nachrichten über den Verbleib der Bücher aus den drei norddeutschen Hansestädten auf: „1953 wurden Berichte ehemaliger deutscher Kriegsgefangener bekannt, die im Kaukasus Bremer Bücher ausgeladen hatten“, sagt Thomas Elsmann, Leiter der Handschriftenabteilung der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen. Ein Indiz dafür, dass die „Trophäenbücher“ damals nicht nur in Moskauer und Leningrader Bibliotheken gebracht wurden, sondern auch in entferntere Sowjetrepubliken.
Aufgrund welcher Kriterien die Bücher innerhalb der Sowjetunion verteilt wurden, erschließt sich jedoch schwer: „Anhand inzwischen rückgeführter Werke lässt sich das nicht rekonstruieren: Oft sind zum Beispiel Einzelstücke mehrbändiger Reihen zurückgekommen“, sagt Jörg Fligge, Leiter der Lübecker Stadtbibliothek. Andere restituierte Kisten enthielten eine Mischung aus Weltliteratur und lokal bedeutsamer Bücher. Hamburgensien und Lubecensien – Bücher zur Lübecker Stadtgeschichte – waren zum Beispiel in größerem Umfang nach Sachsen ausgelagert. „Etliche davon vermuten wir in der St. Petersburger Nationalbibliothek“, sagt Krawehl. Als Bibliothekar schmerzt es ihn, dass Hamburgensien nicht an ihrem Entstehungsort weilen. Dieses Problem teilt sein Bremer Kollege nicht: „Alle Bremensien waren nach Rotenburg/Wümme ausgelagert, so dass sie nach dem Krieg leicht zurückgeholt werden konnten“, berichtet Elsmann. Etliche Lübecker Predigt- und Hochzeitsbücher wiederum weilen in verschiedenen russischen Bibliotheken. Und vielleicht, so meinen die Bibliothekare, könnten solche lokal bedeutsamen Stücke irgendwann Ansatzpunkte für Rückgabe-Kompromisse sein, die durch das Duma-Gesetz von 1996, das alle „Beutekunst“ zum russischen Nationaleigentum erklärte, vorläufig beendet wurden. „Hamburgensien machen in St. Petersburg keinen Sinn“, sagt Krawehl. „Andererseits habe ich Verständnis für die St. Petersburger Kollegen, die dies als winzige Kompensation für von Deutschen zugefügtes Leid betrachten. Abgesehen davon gibt es durchaus unterschiedliche Stadien der Einarbeitung: In St. Petersburg etwa existiert ein eigenes Reservemagazin mit Hamburger, Lübecker und Bremer Büchern. Sie sind nicht in den Katalog der Nationalbibliothek eingearbeitet, so dass sie problemlos herausgelöst werden könnten. Aber Restitution ist ein sehr emotionsgeladenes Thema, das die Generationen nach uns vielleicht mit mehr Abstand diskutieren können.“
Hoch emotional waren auch zwei Informationsreisen deutscher Bibliothekare nach Russland, an denen Krawehl und Fligge teilnahmen. Grundlage war ein 1993 von Moskau unterbreitetes Angebot, deutschen Bibliothekaren die russischen Magazine zu öffnen. „In der St. Petersburger Nationalbibliothek sind wir 1994 sehr zuvorkommend empfangen worden, konnten in alle Magazine – und vor allem: Evgenij Kusmin, Abteilungsleiter für Bibliotheken im Ministerium für Kultur der Russischen Föderation, hat dort erstmals überhaupt über den Umfang des Abtransports der ,Beutebücher‘ in die Sowjetunion berichtet“, erzählt Krawehl. Hamburger Buchsignaturen in großer Zahl habe er im St. Petersburger Katalog ebenso gefunden wie in dem der Tomsker Universitätsbibliothek, wohin er auf eigenen Wunsch mit dem Lübecker Kollegen flog.
Sichtung, nicht Rückforderung war Thema dieser Reise, die Lücken eines Mosaiks füllte, das Rückgaben aus Armenien und Georgien nach Hamburg, Bremen und Lübeck vervollständigten: „1996 kamen aus Georgien etliche Bücher, die mit Lübecker Stadtgeschichte befasst sind“, sagt Jörg Fligge. „Die 1998 und 2000 von Armenien an Lübeck, Hamburg und Bremen zurückgegebenen Handschriften dagegen waren durchweg von hohem Sachwert“, ergänzt sein Bremer Kollege Elsmann. Er wertet diese Rückgaben als „politsches Signal zweier Staaten, die sich zum Westen hin öffnen möchten“. Gesten, für die es zwar – so die offizielle Linie von Staatsministerin Christina Weiss – „in keiner Weise Kompensationsleistungen“ geben soll. Trotzdem hat sich Deutschland zu Finanzierungshilfen bei der Restaurierung der altrussischen Kirche von Wolotowo bei Nowgorod verpflichtet. „Was wäre also dagegen einzuwenden, die St. Petersburger Nationalbibliothek etwa bei der Umstellung des Zettelkasten-Katalogs auf einen elektronischen zu unterstützen?“ sinniert Krawehl.
Als wenig sinnvoll betrachtet der Wissenschaftler dagegen den Versuch, „Beutegut“ beider Staaten miteinander zu verrechnen. Einen solchen Fall – den Tausch von Talliner Archivalien gegen Hamburger, Bremer und Lübecker Dokumente – hat es zwar 1990 gegeben. „Aber grundsätzlich ist das schwierig. Viele solcher Dinge dürften in Deutschland nicht mehr sein“, vermutet Krawehl. „Außerdem: Wie wollen Sie den emotionalen Wert einer religiös genutzten Ikone bestimmen? Das ist genauso subjektiv wie die Beziehung des Bibliothekars zum Buch“, sagt Krawehl, der „ganz ohne Aggression möchte, dass Hamburgensien sowie die Sammlungen, die hier entstanden, zurückkommen. Für andere Werke der Weltliteratur dagegen genügt es, wenn sie in Bibliotheken öffentlich zugänglich sind und man Mikrofilme von ihnen herstellen kann.“
Operation Gomorrha, Hamburger Staatsbibliothek, bis 23.8.2003