lidokino: Real Life bei Woody Allen, Sozialpotpourri bei Stephen Frears
Gratisgrüße aus New York
Venedig ist Woody Allens Lieblingsstadt. Obwohl er eigentlich gar nicht so richtig zu ihr passt, wie man vor zwei Jahren in Barbara Kopples Dokumentarfilm „Wild man blues“ beobachten konnte. Da sieht man Woody mit seiner geliebten Adoptivtochter in einer Gondel sitzen, wobei er ein bisschen wie ein verschüchtertes kleines Schaf wirkt, das den Boden unter den Füßen verloren hat. In „Everyone Says I Love You“ machte er die Lagunenstadt zur glamourösen Musicalkulisse für Julia Roberts und schenkte sich eine wunderbar kitschige Flirtszene mit ihr zusammen am Canale Grande. Auch seine Filme schickte er in den letzten Jahren am liebsten nach Venedig, wo sie immer außer Konkurrenz laufen, weil ihm die Idee eines Wettbewerbs einfach albern vorkommt – er selbst weigert sich seit jeher, am Festivaltrubel teilzunehmen. Irgendwie wirkt sich das natürlich auf die Rezeptionshaltung aus, man hat weniger den Eindruck, einen Festivalbeitrag zu sehen, als eine filmische Flaschenpost, ein Gratisgrußwort aus New York.
„Small Time Crooks“ ist wieder so ein Geschenk aus der Ferne, mit typischem Allen-Effekt: Man sitzt im Kino und spürt, wie tausend Menschen gleichzeitig das Herz aufgeht, weil kaum einer zärtlicher mit seinen Figuren umgeht als Woody Allen. Zum Beispiel mit Ray und Frenchy, einem tapferen Kleinbürgerpaar, das in einem heruntergekommenen Apartment lebt, liebt und streitet. Schon die Ausstattung ist eine kleine Liebeserklärung: Tracey Ullman, das ordinäre Schlappmaul, trägt grelle Blusen und rote Lacklederröckchen, Allen selbst biegt gleich am Anfang in unmöglichen Bermuda-Shorts um die Ecke. Ein Banküberfall soll den beiden das große Geld bringen, was als Plan zwar völlig in die Hose geht, über Umwege allerdings zur Gründung eines Cookie-Imperiums führt. Kurz: Ray und Frenchy sind plötzlich superreich, ohne allerdings recht zu wissen, wohin mit dem Geld. Da auch die mit Goldtüll, Plüschtieren und Flauschteppichen ausstaffierte Wohnung keine Erfüllung bringt, beschließt Frenchy, endlich etwas für ihre Bildung zu tun. Einer der rührendsten Momente von „Small Time Crooks“ ist denn auch die Szene, in der Tracey Ullman nach einer Party melancholisch im Schlafzimmer sitzt, mit dem unbestimmten Gefühl, keine Ahnung von Kultur („all the finer things“) zu haben.
Eine ungebildete Neureiche aus der Unterschicht, die mit ihrem Privatlehrer (Hugh Grant) zu snobistischen Vernissagen und repräsentativen Konzerten rennt, sich auf Dinnerpartys immer wieder durch ihr Vokabular blamiert – Allen macht daraus das liebevolle Porträt einer unsicheren Frau, die verzweifelt versucht, sich in bestimmte Codes einzukaufen, weil sie endlich mal dazugehören will. Wirklich vorgeführt wird hier nur die Gesellschaftsklasse, über die er normalerweise seine Filme dreht: Galeristenpack, eingebildete Künstler, Sponsoren suchende Literatenquassler und raffgierige Anwälte, die den unbedarften Parvenüs das Geld aus der Tasche ziehen. Am Schluss stehen Ray und Frenchy zwar wieder allein in ihrer grauenhaften Sessellandschaft, aber zumindest um ein paar Lektionen reicher.
Wahrscheinlich hätte sich Stephen Frears einfach einen Film wie „Small Time Crooks“ anschauen müssen, bevor er mit den Dreharbeiten zu „Liam“ begann. Denn Allen und Ullman verströmen in ihrer winzigen versifften New Yorker Küche immer noch mehr Realismus als Frears ganzer Film, der eigentlich eine Hunger leidende Arbeiterfamilie im England der 30er-Jahre porträtieren will. Dekorativ arrangiertes Elend, pittoreske Fabriken und hohlwangige Kinder, die in adrett gestärkten Blusen zur Kirche gehen. Die Titelrolle spielt ein sechsjähriger Junge, und wahrscheinlich dachte Frears, dass er mit dem apfelbäckigen Wonneproppen schon die halbe Miete eingefahren habe. Zumal das Bürschen auch noch stottert, angesichts der perfiden Schrecken eines zutiefst katholi- schen Schulunterrichts. Religiöse Schuldkomplexe, Ausländerfeindlichkeit, Arbeitslosigkeit – „Liam“ ist ein voll gepacktes sozialrealistisches Potpourri und steht dem Leben doch unendlich fern. Selbst der karge Abendbrottisch wird zum warm ausgeleuchteten Stillleben. Real Life – das ist, wenn Tracey Ullman bei Woody Allen in zitronenfarbenen Stretch-Jeans in der Küche steht und Bolognesebällchen schlecht gelaunt auf die Spaghettiberge knallt.
KATJA NICODEMUS
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