Reaktionen auf S-Bahn-Mord: Billige Antworten
Nach der Tat von München ist der Hergang rekonstruiert. Ein Trend lässt sich hinter der Tat nicht erkennen, doch die Politiker überbieten sich in Forderungen nach härteren Strafen.
Es gibt keine einfache Erklärung, auch nicht drei Tage nach dem tödlichen Angriff zweier Jugendlicher auf einen 50-jährigen Geschäftsmann am S-Bahnhof von München-Solln. Es gibt nur Zeichen. Am Mittwochabend wollen die Sollner auf dem Parkplatz neben dem Bahnhof zum Gedenken an das couragierte Opfer einen ökumenischen Gottesdienst abhalten.
Die trockenen Fakten der unbegreiflichen Tat hat die Münchner Polizei mittlerweile minutengenau rekonstruiert. Am Samstag um Viertel vor vier Uhr nachmittags bedrohen am S-Bahnhof Donnersbergerbrücke in der Münchner Innenstadt drei Jugendliche, zwei sind 17, einer 18 Jahre alt, vier Schüler. Sie wollen Geld von ihnen, 15 Euro. Ein Täter schlägt einem der Schüler ins Gesicht. Die Kinder steigen in eine S-Bahn, zwei der Erpresser folgen ihnen. Der dritte bleibt zurück. "Besorgt es denen richtig", soll er noch seinen Freunden zugerufen haben.
In der Bahn beobachtet ein Geschäftsmann das Geschehen. Er ruft mit seinem Handy die Polizei. Um zehn nach vier steigt er am Bahnhof Solln mit den Kindern aus. Die Polizei ist noch nicht eingetroffen. Die zwei jungen Erpresser gehen auf den Geschäftsmann los. Sie schlagen auf seinen Oberkörper und Kopf ein, bis er nicht mehr aufsteht.
Der Obduktionsbericht stellte 22 schwere Verletzungen durch stumpfe Gewalteinwirkung fest. Welche davon am Ende tödlich war, können die Ermittler bislang noch nicht feststellen. Offenbar stürzte das Opfer auch mit dem Hinterkopf auf ein Metallgeländer. Die Täter werden eine Stunde später in einem Gebüsch am Bahnhof festgenommen. Der dritte Erpresser wird einen Tag später aufgegriffen.
Die Politik sucht seitdem reflexartig nach schnellen, öffentlichkeitswirksamen Lösungen. Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) hat die S-Bahn-Attacke eilig auf die Tagesordnung des bayerischen Kabinetts am Mittwoch gehoben. Die Union fordert härtere Höchststrafen für jugendliche Täter und flächendeckende Videoüberwachung (siehe unten). Vizekanzler Frank-Walter Steinmeier (SPD) will mehr Polizeikontrollen an Bahnhöfen. Der frühere Justizsenator Rupert Scholz (CDU) verlangt gar harte Strafen gegen "Gaffer" - Augenzeugen, die nicht beherzt genug eingreifen.
Laut Münchner Polizei befanden sich zwar mehrere Menschen am Bahnhof. Auf Gaffer gebe es aber keine Hinweise, so ein Polizeisprecher. Während des tödlichen Angriffs gingen mehrere Notrufe bei der Polizei ein. Auch ein Trend lässt sich hinter der Tat nicht erkennen. Die Zahl der Gewaltverbrechen im Münchner Nahverkehr ist seit Jahren stark rückläufig. Im vergangenen Jahr zählte die Polizeistatistik 251 Fälle - 23 Prozent weniger als noch im Jahr zuvor.
Umso unbegreiflicher ist der Einzelfall von Solln. Die Bild-Zeitung druckte am Dienstag Fotos der Täter. Sie hätten "böse Augen" und lebten in einer "Drogen-WG", schreibt das Blatt. Tatsächlich wurden einer der Täter und der dritte Erpresser im Easy-Contact-Haus des Münchner Drogenhilfevereins Condrobs betreut. Auch der zweite Täter stand unter strenger Aufsicht. Nachdem ihn ein Gericht wegen bewaffnetem Raub zu einem vierwöchigen Arrest verurteilt hatte, wurde ihm ein Betreuer zur Seite gestellt. Sein Anwalt beschreibt ihn als einen "lieben Jugendlichen, der an die falschen Freunde geraten ist".
Sein Opfer soll nun nach dem Wunsch von Politikern posthum für sein couragiertes Eingreifen geehrt werden. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) schlug die Verleihung eines Ordens vor. Der frühere Entwicklungshilfeminister Carl-Dieter Spranger (CSU) forderte, der Geschäftsmann solle das Bundesverdienstkreuz bekommen. Offiziell darf die oberste Auszeichnung der Republik vom Bundespräsidenten nur an lebende Personen verliehen werden. Doch es gab bereits Ausnahmen. Zuletzt wurde der Orden 1986 posthum verliehen, an den mutmaßlich von der RAF getöteten Physiker Karl Heinz Beckurts.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Scholz fordert mehr Kompetenzen für Behörden