Kommentar Mord in München-Solln: Was ist jetzt die Frage?
Der Mord zeigt, dass es keine gutbürgerlichen Inseln mehr gibt - auch nicht in München. Und Dominik Brunner war ein intaktes Individuum als das er auch geehrt werden muss.
W ie kann es sein, fragen sich die Kommentatoren des Verbrechens am S-Bahnhof München-Solln, dass ausgerechnet im "Millionendorf" ein couragierter Bürger am helllichten Tag totgeprügelt wird? Auf diese Frage gibt es eine Antwort - und sie ist nicht auf die "Weltstadt mit Herz" beschränkt, sondern passt auf alle Ortschaften der Republik, in denen gutbürgerliche Verhaltensnormen bislang als die wesentlichen gelten durften.
Dominik Brunner musste bei seiner über das Maß der Pflicht zur Hilfeleistung hinausgehenden Intervention mit vielem rechnen. Aber nicht damit, auf Gegner zu treffen, die ein persönliches Sich-Entgegenstellen, eine Ermahnung und die Drohung mit der Polizei nicht nur nicht beeindrucken, sondern dazu bewegt, ihr Aggressionspotential erst recht zu entfalten.
Im Münchner Kosmos liegt ein solches Verhalten außerhalb der verinnerlichten Norm. Deshalb prallten in Solln zwei Welten aufeinander - und wo sonst sollte das geschehen, wenn nicht an einem wirklich öffentlichen Ort, in dem Fall der S-Bahn? Dass es keine gutbürgerlichen Inseln mehr gibt in einer von harten Verteilungskämpfen geprägten Gesellschaft ist die eine Lektion der Geschehnisse.
Die andere liegt jenseits davon. Sie lautet: Wer Dominik Brunner ehren und als Vorbild in der gemeinschaftlichen Erinnerung verankern will, muss ihn als intaktes Individuum ehren und nicht als Opfer. Er hat - wie impulsiv auch immer - die Entscheidung getroffen, mit der er guten Gewissens leben wollte, mit der er sich abends vorm Spiegel ins Gesicht schauen wollte - und musste für sie sterben.
Mehr oder weniger bedenkenswerte Verweise auf fehlende Kameraüberwachung, mangelnde Polizeipräsenz oder radikale Personaleinsparungen bei der ,Geister'-Bahn gaukeln eine zu gewährleistende Sicherheit vor, die Politiker auf anderen Feldern längst als Sozialstaatsmentalität gebrandmarkt haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“