strübel & passig: Read.me
# Lieber Niklaus, dieser Text war auf meinem Schreibtisch – ich glaube, er ist von mir. Die Kommentare bitte kursiv und auf neue Zeilen setzen, danke!
In jungen Jahren pflegte ich meine Tagebucheinträge etwa so abzufassen: „Mit S., H. und R. nach G. ins D.“ Selbstverständlich würde ich mich ein Leben lang daran erinnern, wer S., H. und R. waren und was wir im G. in D. wollten. Aber weil man so nicht in künftige Ausgaben von Kempowskis „Echolot“ kommt und überhaupt im Alter klüger wird, erkannte ich bald, dass man sich auf das eigene Gedächtnis nur dann verlassen darf, wenn es gar nicht anders geht.
# Sobald mir wieder einfällt, wo es steht, kommt hier noch ein Zitat von Solschenizyn hin, wie er im Gulag ein Buch komplett im Kopf verfasst … oder war das Bettelheim im KZ?
Wenn ich in jungen Jahren nicht davon überzeugt gewesen wäre, Programmiersprachen seien eine im Sperma von Männern vorhandene Substanz, sodass mein Eifer bei ihrer Aneignung entsprechend schnell erlahmte, dann hätte ich das alles schon viel früher begriffen. Wer schon mal vor einem vorgestern hingeschriebenen Stück eigenen Codes gesessen und sich gewundert hat, von wem dieses Dornengestrüpp stammen und was es bedeuten mag, wird wissen, was ich meine.
Seit ich die Vorzüge der ausführlichen Selbstdokumentation erkannt habe, ist mein Leben etwas einfacher geworden, auch wenn sich meine Kommentare beim Programmieren in aller Regel auf „Finger weg von dieser Zeile, die tut irgendwas und muss drinbleiben!“ oder „hab vergessen, wozu das hier gut ist“ beschränken. Auch der Verzicht auf Dateinamen wie „rechnung.txt“ und Ordner wie „zeug“, „altes zeug“ und „ganz altes zeug“ erweist sich als hilfreich. Und Backup-CDs bereiten mehr Freude, wenn sie ausführlicher als „Backup“ oder „Aktuelles Backup“ beschriftet sind.
# Hier muss noch eine Überleitung hin: Es geht ja nicht nur um den Computer, sondern in erster Linie darum, das Leben korrekt zu dokumentieren, damit man auch morgen noch weiß, wer man ist und was dieser Zettel bedeutet, auf dem in der eigenen Handschrift „Nachhaken wg. Seele!“ steht.
Ein vorbildliches Beispiel ist da jener Unbekannte, der seine PIN mit Edding direkt auf dem Geldautomaten notiert hat. Seine Weisheit erkannte ich an dem Tag, an dem ich nicht nur meine PIN vergaß, sondern auch vergaß, dass ich sie vergessen hatte, dreimal das eingab, was mir mein unzuverlässiges Gedächtnis stattdessen untergeschoben hatte und meine EC-Karte einbüßte. Oder der Protagonist aus „Memento“, der sich alles Wichtige auf den Körper tätowieren lässt. Auf meiner Stirn sollte in Spiegelschrift geschrieben stehen: „!nessegrev thcin txeT-zat“.
Mittelfristig hoffe ich sehr auf die Fortschritte der Wearables-Technik, damit diensteifrige Videokameras überall an meinem Körper aufzeichnen können, warum und mit wem ich gestern Abend wo gewesen bin und wo die blauen Flecken heute herkommen. Das mit den blauen Flecken ließe sich womöglich sogar zu Geld machen.
# Lieber Niklaus, dieser Text hatte ursprünglich einen sehr schönen Schluss, den ich handschriftlich auf einem Zettel notiert hatte. Der Zettel ist leider verschwunden. Nächstes Mal schreib ich drauf, wo ich ihn hinlege …
KATHRIN PASSIG
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