■ Daumenkino: Rauliens Revier
Über den deutschen Film mag man denken, was man will, aber dem deutschen Dokumentarfilm geht es gut. Frei von Drehbuchschwächen, Hollywood-Komplexen und der Unbehaglichkeit im Umgang mit dem sogenannten Deutschen, die man in der Kinoproduktion allenthalben antrifft, durchkämmt er die Lande. Immer mehr Langzeitethnographien sind zu verzeichnen.
Bei Rauliens Revier, dritter Film der Wildenhahn- Schülerin Alice Agneskirchner, erstaunt schon das Thema: Hier wird ein Cop porträtiert, ein Kob aus Duisburg-Bruckhausen. Dort lebten in guten Zeiten der August-Thyssen-Stahlhütte über 20.000 Menschen, nun sind es 8.000. Hochöfen, Pommesbuden, Fußgängerzone. Raulien geht in Polizeiwollpullover und einem Schweinsprofil, das Seyfried hätte erbleichen lassen, durch die Straßen und kennt alle, und alle kennen ihn. Er ist alles, was man sich vorstellt: jovial, kamerascheu und zugleich gespreizt wie ein Pfau. Schon fürchtet man, es mit einem Stück Ruhrpott- Folklore und dazugehöriger Herablassung zu tun zu haben. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich der Film aber als hochinteressantes Exerzitium zur Staatsbürgerkunde.
Raulien ist nämlich eine Mischung aus Landesfürst, Pfarrer, Richter und Sozialarbeiter, wie sie nur eine gelassen vor sich hin funktionierende Republik hervorbringen konnte. Sein Fürstentum dient eher dem Schutz als dem Trutz. Er betrachtet alle Bruckhausener als ihm anbefohlen, was zwar heißt, daß er seine Nase immer ein bißchen tief in ihre Angelegenheiten steckt, aber seine Kenntnisse zu nichts Verderblichem nutzt.
Eher ist es so, daß Frau Ilka Meyer ein Problem mit dem Vermieter hat und Raulien sofort versteht, daß dies seine Kompetenzen übersteigt. Er empfiehlt ihr einen Anwalt. Herr Behlhardi wiederum beschwert sich, daß seine Söhne immer zu Frau Illhardt gehen, die älter und unverheiratet ist und will Raulien bewegen, etwas gegen die befürchtete Hurerei zu unternehmen. Sein Sohn Karem kommt ins Bild: Schluß mit der väterlichen Bevormundung. Raulien will wissen, was war. Es läßt sich nicht ganz schlüssig rauskriegen, vielleicht will er's auch nicht zu genau wissen, und so empfiehlt er den Jungens schlitzohrig, ein bißchen besser aufzupassen ... Bei alten Damen ist er zum Kaffee, auf einer albanischen Hochzeit wird er willkommen geheißen, abends gibt es Schnaps.
Natürlich lugt hinter all dem der alte Wildenhahn- Traum vom sich selbst regierenden Proletariat hervor. Vermeidung zu ethnographisch wirkender Totalen oder zu dramatisierender Zooms hält den Zuschauer stets auf Distanz. Als führe man im Zug vorbei, wird Rauliens Revier kurz vorgestellt wie Penny Lane, zu keinem bestimmten Ende. mn
Rauliens Revier. Regie: Alice Agneskirchner. Kamera: Marcus Winterbauer.
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