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Ratlos begeistert

■ Zum zwölften Mal Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt

Mathias Bröckers

„Ahnungslos in eine Sexfalle tappte in der Nacht von Freitag auf Samstag ein Klagenfurter Pensionist in der Landeshauptstadt. Der 50jährige hatte beim Würstelstand am Heiligengeistplatz eine Runde Bier ausgegeben. Seine Gäste waren der Unterstandslose Karl Schweighofer, der Schausteller Georg Berger sowie die 30jährige Karoline K. Die Frau lud den spendablen 50jährigen zu einer stürmischen Liebesnacht in den Schillerpark ein. Der Pensionist nahm das Angebot an. Während einiger „heißer Szenen“ fielen plötzlich Schweighofer und Berger über den ahnungslosen Liebhaber her und entwendeten die Brieftasche mit 2.000 Schilling. Der Pensionist erlitt leichte Verletzungen und mußte sein Draufgängertum mit einem Krankenhausaufenthalt bezahlen. Das Duo wurde verhaftet, die Frau angezeigt.“ ('Kärtner Tageszeitung‘, 3.Juli 1988)

Während Dramatik und Leidenschaft, das Böse und das Schöne, unterstandslos auf der Straße liegen, schläft der Troß der deutschsprachigen Literatur in den Klagenfurter Hotels. Sein Abenteuer findet morgens ab neun im Saale statt, beim Wettlesen (und Wetturteilen) um den 12.Ingeborg-Bachmann -Preis. Am Samstag gegen 11 Uhr 30 - Schweighofer, Berger und Karoline K. stehen vermutlich gerade zwecks Haftprüfung vor dem Richter, liegt der Bachmann-Jury ein Ausschnitt aus „Die Königin von Saba kniend“ vor, den die 43jährige Angela Praesent vorgelesen hat. Ein betulich auf Boudoir getrimmter Haßliebesbrief an eine elegante Dame, der zu Zeiten, als Reich-Ranicki in diesem Zirkus noch die Peitsche schwang, mit dem Todesurteil „wackere Prosa“ in die feministische Schmunzelecke gewandert wäre, der heuer aber der Jurorin Gisela Lindemann als „amüsantester Text bisher“ gilt und für den Hellmuth Karasek das Prädikat „Parfümierter Text von maliziöser Eleganz“ aus dem Klappentext-Köcher zieht. Auch Volker Hage ist „angetan“, Urs Jaeggi entdeckt eine „sehr schöne Parodie, ja...“ und Peter Demetz findet, die Sache sei „mit Silberstift geschrieben“ - Meißner Porzellan auf lila Grund.

Daß sich die Hälfte der Jury für derlei Petitessen ins Zeug legt, wundert nicht, sie gehören noch zu den Highlights im Feuerwerk des unfreiwilligen Banalismus, das die 22 zum Wörthersee geladenen AutorInnen entfachen. Mindestens die Hälfte der Prosa-Proben hätte ein wohlmeinender Wortwart wegen Fehlens jedweder Gewichtsklasse auf den ersten Blick disqualifizieren müssen, aber eine solche Instanz existiert nicht bei diesem Wettbewerb, für den jedes der elf Jurymitglieder zwei Talente seiner Wahl einlädt.

Weil die Gagen im Literaturgewerbe so viel niedriger sind als beim Boxen, reichen offenbar ein Flugticket und 5 Tage Kost und Logis in Kärnten, um Prosahersteller zum Knockout in den Bachmann-Ring zu locken. Da Klagenfurt vom Image der Schlachtbank erfolgreich losgekommen ist, wird noch der erbärmlichste Stuß in windelweicher Rede exakt 30 Minuten lang kritisch und kompetent ventiliert. Das mag, an sich betrachtet, wünschenswert sein, wird aber zu Tortur, wenn bittere Sprach- und Gedankenarmut nach einem Killertypen und sonst gar nichts - schreit. Fällt aber mal ein halbwegs ätzendes Statement - etwa wenn Karasek die öde Geschichte einer Beinverletzung mit einem Journalistenwitz („Ich habe mir das Bein gebrochen.“ - Hoffentlich nicht das, mit dem Sie schreiben.“) kommentiert - dann ist gleich ein Jury -Kollege zur Stelle, der diese Spitze in birnenweiches Larifari verbiegt. Als Spezialist in Sachen Wiederkehr des Immerseichten brillierte der Wiener Literaturprofessor Herbert Zeman; erst zum zweiten Mal auf der Richterbank, hat sich dieser Mann, mit einem halben Dutzend Präsidenten- und Vorsitzenden-Posten im Titelgepäck, zum unverzichtbaren Joker des Jury-Teams entwickelt. Wenn Zeman von den „Ambivalenzen des Humanen“ fabuliert und zwecks Unterstreichung die Porsche-Sonnenbrille abnimmt erreicht der Unterhaltungswert des Wettbewerbs einen seiner raren Höhepunkte. Inkompetenz so freundlich sprudelnd bei der Arbeit zu sehen, das gibt es nicht alle Tage, und so kann, was die Zusammensetzung der Jury angeht, für die Zukunft nur mit Freddy Quinn gehofft werden: Zeman, komm bald wieder... Übertroffen wurde der Professoren-Darsteller nur noch von seinem Kandidaten Alois Haider, dessen niederöstereichischer Lolita-Verschnitt dem seit zwei Tagen mehr oder weniger dämmernden Publikum wieherndes Lachen und tosenden Beifall entriß: „Der Föhn drückte den Atem der Landschaft dicht an die Stadt und senkte unter Freiwegs Schädeldecke einen dumpfen Schmerz... Freiweg faltet die Flügel seiner Visionen und kehrt in die Wirklichkeit zurück... er starrte immer gebannt auf ihren Mund, wenn sie mit ebenmäßigen, weißen Zähnen ein Stück Schokolade von der Tafel brach und es mit weichen Lippen der Zunge zum Schmelzen übergab.“ Dieser Tiefpunkt der Literatur (aus der wahrscheinlich völlig verwurstelten Erzählung „Der Knoten der Einsamkeit“) ist auch einer der Kritik: Herr Karasek entdeckt „sehr große Sprache, keinesfalls Groschenroman“, Herr Hage warnt, daß „Spott hier leicht zu haben sei“ und bekundetet einen seriösen „Zwiespalt“, Prof. Zeman hält sich fröhlich zugute, dem Autor zum Lesen gerade diesen Textausschnitt geraten zu haben. Um diese Zeit, Samstag 12 Uhr 45, hat der Gerichtsbeamte das Aussage-Protokoll des Schillerpark-Trios vielleicht gerade abgetippt - welch eine Lektüre, allein dieser Fall, von der Lebensgeschichte der tragischen Helden ganz zu schweigen.

Nun ist es nicht gerade originell, der eher schlaftreibenden Wirkung der dargebotenen Literatur die Wucht des prallen Lebens entgegenzuhalten, doch hätte man mit dieser These zumindest die DDR-Juroren Werner Liersch und Helga Schubert auf seiner Seite. Die stehen nämlich auf Realismus und freuen sich, wenn „Wirklichkeit vorkommt“ (Liersch) oder „daß der Text einen Anfang und ein Ende hat“ (Schubert). Auch der Alt-Modernist Jörg Drews entwickelt in Klagenfurt einen merkwürdigen Hang zum Faktischen: Um eine Erzählung von Walter Klier, die aktuelle Prozeßberichte zum Attentat auf den Kärtner Landeshauptmann bei einem Klassentreffen aufgreift, beurteilen zu können, muß er „die Dokumente sehen“, in der Erzählung des Berliners Michael Wildenhains - einer streetfighting lovestory vor dem Hintergrund der Bolle-Ruine in Kreuzberg - geht es für Drews literarisch nicht weiter, weil es sich um eine „politische Sackgasse“ handelt. (Als ob nicht, neben den selten lichten Höhen, auch Sackgassen hervorragende Produktionsorte für Literatur abgäben.)

Nach einer wenig erhellenden Diskussion über das Dokumentarische - Liersch: „Der Autor ist so, wie er schreibt“, Hage: „Hier sitzt kein Straßenkämpfer, sondern ein Dichter“ - gibt es am Ende den dritten Preis (60.000 Schilling) für die „schreibende Filmkamera“ (Karasek) Wildenhain, auch wenn Peter Demetz anmerkte, daß hier der junge Koeppen und „Pappi Döblin“ deutlich grüßen ließen. Doch das muß bei diesem Teilnehmerfeld, welches sich grußlos größtenteils von selbst erledigt, schon als Kompliment gelten. Und wenn die Jury vor Begeisterung einen Moment nicht durchblickt, ist es gleich der erste Platz: „Hier kommt die Wirklichkeit auf wunderbare Weise zur Sprache“ (Karasek), „Klarheit ist hier da, man muß nicht überall denken: Achtung Symbol“ (Hage), „Ich fand mich hier nicht zurecht, und für mich war das eine schöne Erfahrung“ (Isenschmidt). Die 38jährige Leipzigerin Angela Krauß liest ihren Text „Der Dienst. Ein Entwicklungsroman“ am Anfang, als zweite, und die diffuse Begeisterung - „Herr Karasek hat mir meine Begeisterung schon vorgestammelt“ (Demetz) - hält bis zum letzten Tag. Für ihre Rekonstruktion eines Vaterlebens in den 50er Jahren, das nach dem Einmarsch der Russen in die CSSR mit Selbstmord endet, erhält Angela Krauß den Ingeborg Bachmann-Preis (150.000 Schilling). Der zweite Preis (75.000) geht an den Österreicher Anselm Glück (38), dessen minimalistiges Plädoyer gegen den „Hausverstand“ bei Demetz als „mikroskopisches Beben“, bei Isenschmidt als „philosophisches Vexierspiel“, bei Karasek als „Sprachkabarett“ ankommt. Für Zeman werden schlicht „Empfindungen freigesetzt“. Mit Stipendien (30.000 Schilling) werden eine wackere Dorf / Außenseiter-Geschichte von Sylvia Brandis (29) und eine an Joseph Conrad erinnernde, dokumentarische Erzählung über das Schicksal englischer Häftlinge in einem australischen Straflager belohnt, mit der Bernhard Gierds (38), ehemals Redakteur der Zeitschrift 'Autonomie‘, als letzter Vortragender Eindruck macht. Aber erst, als er den wieder einmal sprachlos begeisterten Kritikern durch Erklärungen auf die Sprünge hilft.

Daß die in der Klagenfurter Prosakuppel ratlosen Jury -Artisten es am Ende schafften, tatsächlich die passabelsten Talentproben mit Preisen nach Haus zu schicken, läßt für die Zukunft des Wettbewerbs noch nichts Gutes erwarten. Relevant wäre vielmehr, was die moderierende „Radiostimme Österreichs“ Ernst Grissemann nach einer Lesung aus Versehen zu Protokoll gab: „Ich bedenke mich beim Autor.“ Bedenken bei den AutorInnen sind vor der Lesung, bei der Auswahl, fällig, wenn nachher Bedenkenswertes hängen bleiben soll.

Abgesehen von Anarchisten wider Willen vom Schlage Zeman und Haider, sorgte nur ein kleines Nachbeben des letztjährigen Bewerbs diesesmal für so etwas wie Sensation: Die Partnerstadt Dachau hatte 1987 einen Preis gestiftet, dessen Träger die Autoren unter sich bestimmen sollten. Wegen des Falls Waldheim widmeten sie diesen Preis aber den Verfolgten des Naziregimes (VVN) und dem Jüdischen Dokumentationszentrum. Die Stadt Dachau verweigerte unter Berufung auf juristische Vergabebedingungen, das Geld auszuzahlen. Begründet wurde die Nichtvergabe mit dem Hinweis, daß VVN und Dokumentationszentrum ja nicht an den Lesungen teilgenommen hätten. Als Sprecher der letztjährigen Autoren bezeichnete Urs Allemann dies als „politisch fatal, moralisch degoutant und ästhetisch pitoyabel“. Im Namen der 23 Verlage, die einen Teil des Bachmann-Preissegens alljährlich stiften, verlas Ernst Reinhardt Piper eine Solidaritätserklärung mit den Autoren, denen man das Einbehalten des Preises nicht einmal mitgeteilt hat. Namens der Juroren gab Hellmuth Karasek die Empfehlung, den im nächsten Jahr wieder ausgesetzten Dachauer Preis nicht, wie geplant, von der Jury, sondern wieder von den Autoren vergeben zu lassen.

Der Klagenfurter Bürgermeister Guggenberger tat sich mit einer mündlichen Stellungnahme schwer: Er habe die Fremdworte von Urs Alleman nicht verstanden. Damit war er nicht allein, der taz-Berichterstatter mußte ein Lexikon bemühen, das unter dem Hinweis „veraltet“ pitoyabel mit „erbärmlich, kläglich“ übersetzt. Der Reporter der 'FAZ‘ hat etwas ganz anderes gehört, in seinem Bericht heißt es: Urs Allemann nannte die Vorgangsweise „politisch fatal, moralisch degoutant und ästhetisch deplorabel“ und hat hierin zweifellos recht. Leider und cum grano salis könte das letzte Verdikt jedoch auch dem diesjährigen Lese -Marathon gelten.“ „Deplorabel“ heißt „beklagens-, bedauernswert“ und das kann in der Tat für den Wettbewerb wie auch für die stillschweigende Waldheim-Solidarität der Preisstifter gelten, nur versteht das leider kein Schwein. Weil Verdikte aber verstanden werden müssen, sei hier eine politisch/moralisch/ästhetische Kurzformel angeregt: Es war

-ora et deplora - einfach miserabel.

P.S.: Zweimal durchquerte der Berichterstatter in der Nacht von Freitag auf Samstag den Schillerpark, allerdings ohne der Sexfallensteller angesichtig zu werden. Wer so, right place, wrong time, am Leben vorbeitappt, ist auf's Lesen angewiesen.

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