: Rasende Wasser
Bei John O'Groats im Nordosten Schottlands treffen Atlantik und Nordsee aufeinander: ein windiger Ort ■ Von Ralf Sotscheck
Man muß wohl mal dagewesen sein, wenn man Brite ist. John O'Groats gilt als der nordöstlichste Zipfel Großbritanniens, das Gegenstück zu Land's End in Cornwall, 1.402 Kilometer diagonal in Richtung Südwesten. Es ist auf der Insel die weiteste Entfernung zwischen zwei Orten, und deshalb sind beide berühmt. In Wirklichkeit ist John O'Groats weder der nördlichste noch der östlichste Punkt, genausowenig wie Land's End der südlichste oder westlichste ist.
Aber das macht nichts, beide Orte leben von ihrem Ruf. John O'Groats ist ein windiger Flecken mit zweihundert Einwohnern und ein paar Häusern. Kein Baum, kein Strauch, aber ein riesiger Parkplatz für die Reisebusse, die den ganzen Sommer über auf einen kurzen Abstecher herkommen. Am Ende des Parkplatzes steht „das letzte Haus in Schottland“, ein schiefergedecktes Cottage, in dem eine kleine Ausstellung über den Ort und seine Geschichte informiert, aber vor allem Postkarten und Souvenirs verkauft werden.
„Die meisten steigen aus, machen ein paar Fotos vom Cottage und fahren weiter“, brummt Arty McKinnon. „Dabei gibt es viel zu sehen, wenn man nur ein bißchen Zeit hat.“ Er stammt aus Wick, 27 Kilometer südlich, hat aber den größten Teil seines Lebens in John O'Groats als Fischer gelebt. Jetzt ist er fast siebzig und fährt nicht mehr hinaus aufs Meer.
McKinnon bringt mich auf dem Küstenpfad drei Kilometer nach Osten zum Duncansby Head, markiert mit einem Leuchtturm, wo die Klippen sechzig Meter hoch aus dem Meer aufragen, unterbrochen von Felsspalten, die von den Einheimischen „geos“ genannt werden. Etwas vorgelagert sind die Stacks of Death, die Todespyramiden, fünf spitze Felsbrocken, an denen Dutzende von Schiffen zerschellt sind.
Das ist wirklich das Nordostende Britanniens. Im Nordwesten sind die Orkney-Inseln Hoy und Flotta zu erkennen. Bei klarem Wetter sieht man die Wara Hills auf der Hauptinsel, die früher Pomona hieß, heute aber meist Mainland genannt wird. Davor liegt Scapa Flow, im Zweiten Weltkrieg der wichtigste britische Marinestützpunkt. Im Ersten Weltkrieg jagten deutsche Matrosen, darunter mein Großvater, ihre gefangengenommene Flotte in die Luft, damit sie den Engländern nicht in die Hände fiel.
Vor Duncansby Head beginnt der Pentland Firth, elf Kilometer breit, der den Atlantik mit der Nordsee verbindet. „Es ist die schnellste Strömung in Großbritannien, wenn nicht in der Welt“, sagt McKinnon. „Bei Flut rast das Wasser vierzehn Stunden lang vom Atlantik zur Nordsee, dann bei Ebbe zehn Stunden lang in die umgekehrte Richtung. Manches Schiff saß wochenlang im Pentland Firth fest, von den Gezeiten hin- und hergeschoben wie ein Wasserball.“
Das schnelle Wasser war schon den Römern bekannt, der Geograph Diodorus Siculus kam 54 v. Chr. Durch den Firth, wie seine Aufzeichnungen belegen. Aber die Römer haben Schottland nicht erobert. Vor langer Zeit, sagt McKinnon, herrschten in der Gegend die Chatten, nach Meinung der Römer „die mutigsten, klügsten und diszipliniertesten aller Germanen“. Sie kamen aus dem Hessischen, bauten „brochs“, große Steinkreise mit einem Durchmesser von rund zehn Metern und drei Meter dicken Wänden, um die Kelten abzuschrecken, mit denen sie aber später verschmolzen.
Auf dem Rückweg nach John O'Groats halten wir an der Sannick-Bucht, manchmal kommt auch die königliche Familie zum Picknick an den Strand mit seinem feinen weißen Sand aus Muschelkalk. „Denselben weißen Muschelsand findest du nirgendwo anders, außer in Land's End“, sagt McKinnon. Warum das so ist, weiß er aber nicht. In der Entfernung, in der Nähe des Point of Ness, steht ein häßlicher Betonklotz. „Eine Firma, die den Muschelkalk abbaut und verkauft“, erklärt McKinnon. „Die Einheimischen haben versucht, die Sache gerichtlich zu stoppen, ohne Erfolg.“
Das Wasser ist trotz des Golfstroms, der durch den Pentland Firth fließt, viel zu kalt zum Baden. Am Strand knien ein paar Kinder und sieben den Sand mit den Händen. Sie suchen „Groatie Buckies“, sagt McKinnon, eine nach innen gebogene Kaurimuschel, die es nur in dieser Gegend gibt. Eine neolithische Halskette aus diesen Muscheln, 5.000 Jahre alt, ist das älteste Schmuckstück, das in Schottland gefunden wurde. Nachbildungen davon gibt es im „letzten Haus Schottlands“ in John O'Groats, wenn man Glück hat, doch die Muscheln sind rar geworden.
John O'Groats — ein merkwürdiger Name. „Er stammt aus dem späten 15. Jahrhundert“, sagt McKinnon. „Nachdem die Orkney-Inseln an Schottland gefallen waren, beschloß Jakob IV., eine Fähre zur Hauptinsel einzurichten.“ Damit beauftragte er drei holländische Brüder, die de Groots, die ein Stück Land an der Spitze der Grafschaft Caithness erhielten und dafür „drei Maße Malz“ im Jahr abgeben mußten, so steht es im Pachtvertrag mit Jan de Groot.
Jan hatte acht Söhne, die Nachfahren betrieben die Fähre für 250 Jahre. Die de Groots begingen den Jahrestag ihrer Ankunft in Schottland stets mit einem großen Festmahl, und dabei kam es einmal unter den acht Söhnen zum Streit darüber, wer am Kopf der Tafel sitzen durfte. Der alte Jan schickte alle nach Hause und versprach, eine Lösung zu finden. Dann baute er ein achteckiges Haus mit acht Eingängen und einem achteckigen Tisch, so daß niemand und jeder am Kopf der Tafel sitzen konnte. Das Gebäude hieß „Jan de Groot's House“, und bald hieß auch der Ort, verballhornt, John O'Groats. Das Haus, das später eine Herberge war, ist längst unter den Dünen begraben, aber es „ist fünf, sechs Meter unter dem Sand noch intakt“, behauptet McKinnon. Ein Hügel mit einem Fahnenmast markiert die Stelle. Das neue Hotel, das inzwischen auch nicht mehr so neu ist, hat ein achteckiges Türmchen, in Erinnerung an Jan de Groots Haus. Der alte Holländer ist im Nachbarort Canisbay begraben. Es gibt dort eine unscheinbare Kirche, die Canisbay Church of Scotland, das nördlichste Gotteshaus Britanniens. Jan de Groots Grabstein steht im Flur der Kirche an die Wand gelehnt. „Mein Sohn Donald beerdigte mich hier am 13. Tag des April 1568“, steht auf dem braunen, verwitterten Stein, kaum noch zu entziffern. Natürlich ist de Groot nicht im Kirchenflur begraben, der Stein wurde 1852 unter dem Kirchenfußboden gefunden.
Das mittelalterliche Gotteshaus hat eine merkwürdige Form, der Altar befindet sich an der Längswand in der Mitte gleich neben dem Eingang. Die Bänke für die Gläubigen stehen seitlich zum Altar. Der Friedhof hinter der Kirche geht bis hinunter zum Pentland Firth. „Hier möchte man begraben sein“, meint McKinnon, der aber nicht den Eindruck macht, als ob er es damit eilig hätte.
In der Canisbay Church geht die Königinmutter zur Messe, wenn sie in ihrer Sommerresidenz ist, dem Castle of Mey. Ein früherer Bewohner des Schlosses, William Sinclair, brachte es 1595 zu zweifelhaftem Ruhm. Seine Eltern hatten ihn auf die Royal High School in Edinburgh geschickt. Als die Schulverwaltung beschloß, die Ferien zu verkürzen, organisierte er einen Sitzstreik. Ein Beamter versuchte, die Knaben zu vertreiben, und wurde von Sinclair erschossen. Man bestrafte den Schützen nur milde, später wurde er sogar Graf von Caithness.
Würde John O'Groats zehn Meilen weiter westlich liegen, räumt McKinnon ein, wäre es ein unbekanntes, verschlafenes Nest. So aber ist es Ausgangspunkt für die merkwürdigsten Rekorde. Barbara Moore war 1960 die erste, die von John O'Groats nach Land's End lief und eine Modewelle auslöste. Kurz darauf marschierten siebenhundert Leute vom Nordostzipfel los, 150 von ihnen kamen zwischen vierzehn und vierzig Tage später in Land's End an. Danach waren es Rollstuhlfahrer oder Staffelläufer, eine Gruppe junger Männer schob eine Badewanne quer durch Großbritannien. War er mal in Land's End? McKinnon schüttelt den Kopf. „Ich war noch nicht mal in Edinburgh“, sagt er, „aber nach Inverness bin ich mal gekommen.“
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