Raffaele Simone über Berlusconi: "Die Linke hat keine Kraft mehr"
Seit einem Jahr ist er wieder im Amt als Ministerpräsident: Silvio Berlusconi - das "sanfte Monster"? Der Kulturphilosoph Raffaele Simone erklärt das System neue Rechte.
taz: Herr Simone, Sie behaupten, die Linke habe sich weder die Krise, in der sie sich befindet, noch den gegenwärtigen Wandel wirklich klar gemacht. Warum?
Raffaele Simone Jahrgang 1944, Linguist und Kulturphilosoph, lehrt allgemeine Linguistik an der Universität Sapienza in Rom. In seinem kürzlich erschienenen Buch "Il mostro mite" ("Das sanfte Monster") analysiert er die gegenwärtige Entwicklung der italienischen Linken und die Krise, mit der sie ringt, im Zusammenhang mit dem Erstarken der neuen Rechten.
Raffale Simone: Einer der Gründe, warum sich die Linke auf dem Rückzug befindet, ist der spektakuläre intellektuelle Niedergang ihrer Führungsschicht in ganz Europa, abgesehen von wenigen Persönlichkeiten, unter denen Zapatero hervorsticht, wenngleich auch er kein Genie ist. Es ist nicht zuletzt eine Führungsschicht, die zur Repräsentation von Parteien, die man früher populär oder volksnah genannt hätte, wenig geeignet scheint, eher zur Repräsentation von Parteien der Mittelschicht oder des gehobenen Bürgertums. Was bedeutet, dass etwas in der Beziehung zwischen der Führungsebene dieser linken Parteien - im Wesentlichen exkommunistische oder sozialistische Parteien oder sogar exsozialistische Parteien, da ja in der Zwischenzeit auch die Sozialdemokratie verschwunden ist - und dem Parteivolk nicht funktioniert.
Spiegelt sich das auch in der Tatsache wider, dass die Parteien der Linken oder der radikalen Linken seit den letzten Wahlen nicht mehr im italienischen Parlament vertreten sind?
Meine Reflexion nimmt nicht von der Politik ihren Ausgang, sondern von der Analyse der kulturellen Paradigmen, und von diesem Gesichtspunkt aus kann man sagen, dass die Linke diese Phänomene nicht erkennt, weil es die Linke als solche gar nicht mehr gibt. Es gibt sie nicht mehr als kulturelles Gefüge und als Ideal. Die Führungsschicht dieser Parteien, um es sehr grob zu sagen, macht sich ein schönes Leben, die Führer der linksradikalen Parteien eingeschlossen. Und so besitzt das Volk im eigentlichen Wortsinn, so besitzen die Leute, die Hilfe benötigen, keine Art von politischer Vertretung mehr. Andererseits ergibt sich eine Erklärung dafür aus der Tatsache, dass das kulturelle Paradigma der neuen Rechten extrem subtil, vage und faszinierend ist. Es zieht auch diejenigen an, die dagegen rebellieren müssten.
Diese "faszinierende" neue Rechte beschrieben Sie einmal mit Tocqueville: "Ein Despotismus, der die Menschen erniedrigt, ohne sie zu peinigen" - eine beachtliche Fähigkeit also, die Menschen auf heimliche Weise zu umgarnen und einzufangen?
Es ist ein faszinierendes System, angenehm, fein, und das ist der Grund, warum ich neben den Begriff "Monster" das Adjektiv "sanft" gesetzt habe, weil niemand bemerkt, dass es sich um ein Monster handelt, insofern seine Sanftheit die Erkenntnis trübt.
Sind Ihrer Ansicht nach Italien und das System Berlusconi ein Prototyp dafür?
Das System Berlusconi ist der perfekte Prototyp. Unter anderem übernimmt es Berlusconi ja persönlich in seinen nicht seltenen Zwischenrufen, sagen wir, kultureller Art, dieses Modell zu theoretisieren. Ich glaube, dass in seiner entwickelten Form Struktur und Paradigma des "sanften Monsters" eines nicht vorsehen: Dass der Patron selbst der politische Führer ist. Ich würde meinen, dass von dieser Warte aus jenes Modell, das George W. Bush für mehrere Jahre repräsentiert hat, moderner ist. Das heißt: Bush war der sichtbare Ausdruck einer Gruppe, innerhalb derer er zwar ein gewisses ökonomisches Gewicht besitzt, aber kein Gewicht der Entscheidung, in Wirklichkeit stehen die kommandierenden und ihn selbst kommandierenden Personen hinter ihm. Berlusconi interpretiert dieses Modell allitaliana auf ein wenig komische Art, das heißt, er hat sich selbst aus dem Fenster gelehnt, um den Führer abzugeben, aber in Wirklichkeit kennt niemand die wahren Motoren und Promotoren dieses Paradigmas, so wie niemand von uns die Namen der 100, 150 oder 500 Personen kennt, die für die Finanzkrise verantwortlich sind, es gibt kein Bedürfnis, die Namen zu kennen.
Auch weil diese Rechte gar nicht so sehr einer Ideologie verpflichtet ist, einer politischen Idee oder Intention? Sie sprechen zum Beispiel vom Spektakel.
Das Spektakel ist eines der Mittel. Tocqueville hat dieses Schema perfekt beschrieben: Das Ziel dieser Personen ist es, die politische und wirtschaftliche Kontrolle des Planeten zu übernehmen. Und die Massenkultur, derer sie sich bedienen, ist ihr Mittel. Berlusconi hat es in seiner primitiven Treuherzigkeit ausgesprochen: Denkt daran, dass die Personen, die ihr vor euch habt, die geistige Fähigkeit von 11-Jährigen besitzen, sie waren nicht gut in der Schule und saßen auch nicht in der ersten Bank. Das ist die Auffassung vom Volk, von der Masse, von den Menschen, die die Gruppen des planetarischen Kommandos benötigen. Die Verachtung gegenüber dem Untergebenen, der rebelliert, ist ganz typisch, weil der Untergebene brav bleiben und mit seinem Videospiel spielen soll. Das andere fundamentale Element, das man in Italien, Frankreich, zum Teil in den Vereinigten Staaten beobachten kann, ist die Verachtung gegenüber der intellektuellen Tätigkeit. Die wird als Sache von Verrückten betrachtet, als niederträchtig. Man muss nur daran denken, dass der sichtbarste Denker der Berlusconi-Gruppe Marcello DellUtri ist, der die Rolle des Intellektuellen spielt. Das verschafft uns eine Idee davon, welche Auffassung sie von der intellektuellen Tätigkeit haben und allen mit der Wissenschaft verbundenen Arbeiten, also auch von der Universität und der Schule. Das verraten auch die jetzigen Reformversuche in Hinblick auf Universität und Schule in Italien.
Und die Linke weiß nicht, wie sie auf die Fähigkeit des "sanften Monsters", sich alles einzuverleiben, reagieren soll, weil sie keine Kraft mehr hat?
Sie hat keine Kraft mehr, weil sich das "Volk" der Linken in der Zwischenzeit aufgelöst hat. Niemand will mehr zur Arbeiterklasse gehören, niemand mehr Proletarier sein, auch wenn er es, in ökonomischer Hinsicht, ist. Weil es unbequem und beschämend ist. In der Praxis wollen auch die weniger wohlhabenden oder ärmeren Menschen schnell an den Punkt kommen, wo sie konsumieren können. Und das sieht man in den ehemals kommunistischen oder in den armen Ländern, die nach und nach, wenn nicht die Freiheit, so doch die Marktwirtschaft erhalten haben. Die Marktwirtschaft geht der Freiheit vor, das erste Bedürfnis ist der Konsum. In diesem Fall hat die Führungsschicht der Linken, der ich vorgeworfen habe, kulturell unzulänglich zu sein, auch die ein oder andere Entschuldigung auf ihrer Seite, weil sie nicht mehr weiß, wen sie eigentlich vertritt.
Auch in dieser Hinsicht ist Italien ein Prototyp?
Italien besitzt eine Linke light, eine verzuckerte Linke, deren Führer nicht aus Zufall alle Stationen vom Postkommunismus und der Neuausrichtung zu etwas irgendwie anderem durchlaufen und sich zum Schluss mit Katholiken umgeben hat. Auch darin ist Italien ein interessantes Beispiel, weil es die Überlegenheit der Modelle der neuen Rechten belegt und auf der anderen Seite die Verwässerung der Linken bis zu ihrem Verschwinden, einer Linken, der es an der Fähigkeit mangelt, ein Projekt zu entwerfen, und konsequenterweise auch an der Fähigkeit, eine effektive Opposition zu betreiben.
Es gibt in Italien, und nicht nur in Italien, diese Angst auf Seiten der Linken, die Scham, auch nur ein kleines bisschen als "Kommunisten enttarnt" zu werden.
Der Kommunismus hat zu viele Blutspuren auf der Welt hinterlassen, als dass sich jemand leichten Herzens auf diese Tradition berufen könnte. So wird die Geschichte des Kommunismus und der wenigen historischen Erfahrungen mit dem Kommunismus zum erdrückenden Gewicht für alle Formen der Linken weltweit. Nicht zufällig benutzt die andere Seite jene historische Verbindung als Anklagepunkt und nicht zufällig nennt Berlusconi wie aus dem Lehrbuch seine Gegner "die Kommunisten". Das ist ein guter Einfall, der nur dazu dient, um die Angst vor dem Kommunismus, den ein Teil der Welt erlebt hat, wachzurufen.
Im Gegensatz dazu ist die Rechte viel weniger besorgt, was die eigene Geschichte angeht, unter gewissen Umständen verteidigt und rechtfertigt sie sie sogar. Wir sehen das zum Beispiel an der neuen Stadtregierung Roms.
Tatsache ist, dass sich die europäische Rechte in der Moderne in drei Formen manifestiert hat: In der nationalsozialistischen Form, extrem und kriminell, in der faschistischen Form, die jetzt gegenüber dem Nazismus als mittlere Form betrachtet wird, insgesamt nicht einmal so grausam und böse, wobei natürlich viele Dinge vergessen werden, und in der frankistischen Form, die aber glücklicherweise und bisher nur die Spanier betrifft. In dieser Abstufung ist es klar, dass der Faschismus eine Rechte darstellt, die "nicht so schlecht" ist, und so gibt es auch die Versuche, ihn unter den vielfältigsten Formen, die auch von Intellektuellen unterstützt werden, zu rehabilitieren. Es ist auch wahr, dass die Intellektuellen wie die Fliegen der Macht immer zu allem bereit sind. Es ist ein Irrsinn, den Faschismus als eine Epoche der standhaften und entschlossenen Regierung zu präsentieren, unter anderem war er korrupt bis auf die Knochen. In dieser Abstufung bedeutet Faschist zu sein dies: Wir sind nicht wie die Nazis, die die Juden umbrachten, wir sind ganz anders, und deshalb ist der Faschismus eine Tradition, auf die man sich berufen kann. Das beweist aber auch die kulturelle Geringfügigkeit der Generationen der Rechten. Wir haben in Rom einen Bürgermeister, der am Hals das keltische Kreuz trägt und darauf stolz ist. Das sind offensichtlich Formen, sagen wir, ursprünglicher Zugehörigkeit, ohne irgendeine kulturelle Durcharbeitung.
Aus dem Italienischen von Jan Koneffke. Gekürzter Vorabdruck aus Wespennest
Nr. 155, Wien 2009.
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