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Radek Krolczyk Kunst am WegesrandEin Fenster ins Verschwinden

Einige Meter über dem Wasser der Weser, auf der Bürgermeister-Smidt-Brücke, die City und Neustadt miteinander verbindet, wurde 1995 eine dreieckige Glasplatte eingelassen. Sie ist das materielle Ergebnis einer sozialen Plastik, die der Schweizer Konzeptkünstler Jochen Gerz ab 1990 in Bremen realisierte. Man spricht von der „Bremer Befragung“. Gerz verschickte an 50.000 Bremerinnen und Bremer einen Fragebogen, in dem er nach einer sinnvollen Gestalt für ein Kunstwerk im öffentlichen Raum fragte.

Jochen Gerz realisierte seine „Befragung“ anlässlich der Verleihung des ersten Roland-Preises, einer Auszeichnung für Kunst im öffentlichen Raum, die alle drei Jahre vergeben werden sollte. Neben einem Preisgeld von 15.000 Euro beinhaltete der Preis in den ersten Jahren auch die Realisierung einer künstlerischen Arbeit in der Stadt. Als der Preis zuletzt 2012 an die berühmte italienische Bildhauerin Monica Bonvicini verliehen wurde, fehlte bereits das Geld für die Umsetzung eines Werkes in Bremen. Und für 15.000 Euro kauft sich eine hochpreisige Künstlerin wie Bonvicini ein paar Schuhe.

Es wäre für die Zukunft wünschenswert, wenn der Preis neu gedacht werden würde. Jüngere und weniger bekannte Künstlerinnen und Künstler würden mit dem Preisgeld sicherlich gute Arbeiten für die Stadt verwirklichen können. Bei Gerz war es noch anders – die Stifter bestanden auf einer Materialisierung seiner sozialen Praxis. Nur aus diesem Grund gibt es die erwähnte Glasplatte, für Gerz wäre sie nicht notwendig gewesen.

Ihm kam es auch bei anderen Arbeiten stets auf einen gesellschaftlichen Prozess an. So etwa in Hamburg-Harburg, wo er bereits 1986 gemeinsam mit seiner Frau Esther Shalev-Gerz das „Mahnmal gegen Faschismus“ umsetzte. Die beiden hatten in der Nähe des Rathauses eine zwölf Meter hohe Säule aufgerichtet, auf der Menschen mit ihren Namen gegen den Faschismus unterzeichnen sollten. Die Säule wurde nach und nach im Boden versenkt, 1993 schließlich war sie ganz verschwunden, heute kann man noch in einer Unterführung durch ein Sichtfenster einen Blick auf sie werfen.

Das Interessante an Gerz’Bremer Glasplatte ist, dass sie den Blick auf etwas freigibt, was selbst nur ganz flüchtig ist: das Wasser der Weser. Bei Sonnenschein kann man dadurch den eigenen Schatten auf der Wasseroberfläche sehen, das flüchtige Bild einer betrachtenden Person. Die Glasplatte ist meist mit Schmutz verschmiert, auch das spielt für die ästhetische Erfahrung eine Rolle, alles ist vage. Nun sind noch die Namen der Teilnehmenden der Gerz’schen Befragung in die Glasplatte graviert, einige wenige kennt man vielleicht, den Altbürgermeister Henning Scherf oder die Künstlerinnen Petra Fiebig und Annette Weisser. Darüber aber steht: „Die Bremer Befragung ist eine Skulptur. Sie besteht aus den Bildern und Träumen derer, die sie sich vorstellen. Alle, die dies tun, sind ihre Autoren. Die Bremer Befragung ist ihren Autoren gewidmet und allen, die hier stehen bleiben und etwas sehen, was es nicht gibt.“

Der Autor ist Betreiber der Galerie K’

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