RELEGATION In Frankfurt dreht sich alles um Marco Russ. Nürnbergs Coach spricht zu Recht von Inszenierung: Großes Kino mit Halbwissen
Erst der Tumor und dann auch noch das Eigentor! Ausgerechnet Marco Russ! Da waren wieder etliche fasziniert am Donnerstagabend, welche Geschichten doch der Fußball da wieder schreibt. Und am liebsten hätten die TV-Kommentatoren trotz aller behaupteter Sprachlosigkeit mit dem Reden nach dem Spiel gar nicht mehr aufgehört, die Sendezeit gern noch weiter in die Länge gezogen.
So ein Relegationsduell wird ja ohnehin mit unglaublich viel Bedeutung aufgeladen, und nun ging es bei der Begegnung zwischen Eintracht Frankfurt und dem 1. FC Nürnberg plötzlich auch noch um Leben und Tod, Moral, Pietät und Anstand. Ganz großes Kino für die riesige Unterhaltungsmaschinerie des Fußballs. Ein echter Kassenschlager.
Die durch die Erkrankung von Russ schwer getroffenen Frankfurter waren eh über jeden Zweifel erhaben – die Guten also. Und die Nürnberger gerieten unversehens in eine Lage, in der man ihnen moralisch allenfalls Zweitklassigkeit attestieren wollte. Dass der Gästetrainer René Weiler nach dem 1:1 sein Unbehagen über den Zeitpunkt der Bekanntgabe der Krankheit zum Ausdruck brachte und davor warnte, den Fußball für Inszenierungen zu nutzen, fanden viele ungehörig. Weiler sah sich alsbald zum Rückzug genötigt. Er habe gar nicht die Frankfurter angreifen wollen, erklärte er später kleinlaut, sondern finde den Umstand pietätlos, dass ein Sportler intimste Dinge preisgeben müsse, um nicht als Dopingsünder dazustehen.
Dabei hat Weiler mit beidem recht. Sein Vorwurf der Inszenierung trifft ebenfalls ins Schwarze, auch wenn sie nicht von langer Hand geplant war, sondern eher aus einem Gefühl der Unbeholfenheit heraus erfolgte.
Eintracht-Trainer Niko Kovac hatte mit dem Einsatz von Russ diesem Duell eine Bedeutung verliehen, die weit über das Sportliche hinausging. Zumal das Feld der Spekulationen weit offen gehalten wurde. Die Nürnberger hatten es plötzlich mit einem irgendwie angeschlagenen, schwer einschätzbaren Gegner zu tun. Denn niemand wusste wirklich Genaues: etwa, wie bedrohlich der Tumor eigentlich ist. Durch dieses Halbwissen ließ sich das Thema beliebig weit ausdehnen. Und diejenigen, die wie der Schweizer Coach Weiler es wagten, Vorsicht anzumahnen, standen sofort mächtig unter Druck.
Kovac hätte Russ trotz dessen unbedingten Einsatzwillens besser auf der Ersatzbank belassen. Der immense Druck der öffentlichen Aufmerksamkeit und dieses nun wohl unvergessliche Eigentor, das am Ende über den Abstieg von Eintracht Frankfurt entscheiden könnte, wären ihm erspart geblieben. Die private Geschichte von Russ hätte als Nebenschauplatz auch einen angemesseneren Raum zugewiesen bekommen. Und es wäre in Frankfurt vornehmlich nur um Fußball gegangen. Der Eintracht hätte das auch ganz gutgetan.
Einer, der wirklich schwer krank sei, könne kein Fußball spielen, überlegte Nürnbergs Torhüter Raphael Schäfer laut und entschuldigte sich wenig später reumütig für seine „dummen Worte“. Er habe sich geäußert, ohne Bescheid zu wissen. Das Problem am Donnerstagabend war, dass das sehr viele so gehandhabt haben.
Johannes Kopp
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