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RECYCLINGPAPIER FINDET ZU WENIG ABNEHMER – DAS HAT MIT ANGST ZU TUNSchwarz auf weiß

Der Siegeszug der ökologisch unbedenklichen Produkte hatte stets eine massive Barriere zu überwinden: die der Ästhetik. Ideologische Festigkeit war vonnöten, um schrumplige Äpfel, fleckige Tomaten, ins Grau hinüberspielende Wurstsorten – alles aus ökologischer Produktion – anzukaufen. Und das noch zu schockierenden Preisen. Die Trash-Kultur, die Liebeserklärung ans Hässliche, tat sich schwer überall dort, wo die Schwelle zum Bioladen überschritten wurde, wo Leib und Seele unmittelbar ihre Bedürfnisse einforderten. Der Vanillejogurt hatte strahlend gelb, die Erbsen beruhigend grün, das Rindersteak verheißungsvoll dunkelrot zu sein – und das Papier strahlend weiß.

Gerade auf dem Schauplatz des Papierrecyclings mussten sich die ökologisch motivierten Anhänger des Schmuddelgrau schon bald geschlagen geben – von der Toilettenrolle bis zum Briefpapier setzten sich technisch verbesserte Verfahrensweisen durch, die nur das geübte Auge die Differenz zwischen dem jungfräulichen und dem wiederverwendeten Rohstoff erkennen ließen. Umso erklärungsbedürftiger ist die Tatsache, dass die Lust, recyceltes Papier zu erwerben, gerade in letzter Zeit ständig abnimmt. Hierzu wurden von Expertenseite jüngst zwei Faktoren verantwortlich gemacht. Der erste besteht in den unguten Erinnerungen an die Anfänge der alternativen Papierproduktion, berührt also mithin den gleichen Komplex, dem die taz bis heute ihr geringes Anzeigenvolumen verdankt. Der zweite bezieht sich auf die verwirrende Vielfalt der Anbieter und die Undurchsichtigkeit der propagierten Qualitätsstandards.

Wenden wir uns noch einem dritten, dieser Tage ins Auge fallenden Faktor zu: der Angst, dem schwankenden Identitätsboden. Wo alles unsicher erscheint, soll es wenigstens eindeutige Signale geben, unvermischte Farben, wie in der Kinderwelt. Außerdem: Gerade was schwarz auf weiß steht, bedarf der klaren Kontraste. Zwischentöne verunsichern. Der weiße Papierbogen ist libidinös besetzt, gleich werden ihn die Erzeugnisse meiner Gedankenproduktion zieren, so wie das Toilettenpapier die Erzeugnisse meiner Verdauung. Wer von uns Älteren erinnert sich nicht des ekligen braunen Papiers, in die die in Ostberlin erworbenen blauen Bände der Marx-Engels-Ausgabe eingewickelt waren? Aber welche Gewissheit zwischen den Buchdeckeln. Die Wahrheit stand dort schwarz auf blütenweißem Papier! CHRISTIAN SEMLER

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