R&B-Stars in USA und Europa: Europa? Total retro!
In den USA erfinden sich Souldiven von Janet Jackson bis Beyoncé immer wieder neu, Europa bedient Retroklischees. Amy Winehouse' Konsensmusik ist das beste Beispiel.
Verkehrte Welt bei den Grammys: Amy Winehouse räumte mit ihrem altbackenen Motown-Sound die Preise in den wichtigen Popkategorien ab. Damit verwies sie Mary J. Blige, Beyoncé und Rihanna trotz weitaus innovativerer und vielseitigerer Ansätze auf die abgetrennten R&B-Plätze. In den heiß umkämpften Frühling der Souldiven bringen sich nun auch Janet Jackson und Erykah Badu mit neuen Alben in Position. Doch bei allem Selbsterfindungsreichtum, den man von amerikanischen Künstlerinnen gewohnt ist, dürfte keine von ihnen der Londonerin den Thron streitig machen. Denn ihr Konsenserfolg basiert auf einem langlebigen wie regressiven Verständnis von Soul.
Die Haare im Frühsechziger-Stil der Ronettes hochgesteckt, sang Winehouse in ihrer Grammy-Freakshow zu gefälligen Backbeats und Bläsern, die geradewegs aus Berry Gordys Hitfabrik hätten stammen können. Die Backgroundtänzer waren genau nach dem James-Brown-Cover "Please Please Please" modelliert. Unverhohlen nostalgisch geht es auch auf dem Album mit einem Marvin-Gaye-Plagiat und Melodien von Sam Cooke zu.
Gegen die Beharrlichkeit dieses Retro-Phantasmas wirken afroamerikanische Soulsängerinnen geradezu getrieben. Jede Saison muss ein neuer Style, ein neuer Sound und mindestens eine neue Identität her, um konkurrenzfähig zu bleiben. Beyoncé Knowles hat die Flexibilisierung der Souldiva sogar beschleunigt. Ihr Identitätskarussell kann sich innerhalb eines Songs von der Dschungel-Amazone über die Diana-Ross-Erbin zum Las-Vegas-Sternchen drehen. Mit der Künstlichkeit solcher Maskeraden reagiert sie auch auf die Unmöglichkeit, dem Idealbild des weiblichen R&B-Stars noch gerecht zu werden: Sie soll authentisch für die Straße sein, aber poliert im Meeting erscheinen, unabhängig und doch bereit, für ihren Mann alles stehen und liegen zu lassen. Knowles betont die Inszenierung ihrer Persönlichkeiten, statt unter den Ansprüchen zusammenzubrechen - wie es Amy Winehouse in aller Öffentlichkeit tut.
Bevor es so weit kommen sollte, verweigerte sich Lauryn Hill lieber komplett den Marktanforderungen an einen Superstar. So stieg das Multitalent von den Fugees rasant zum notorischen Blindgänger ab. Seit zehn Jahren steht der Nachfolger zu ihrem Solo-Debüt aus. Erst letztes Jahr raffte sie sich wieder zu einer Tournee auf. Die Konzerte glichen Kriegen mit dem Publikum, in Interviews sah man eine völlig verunsicherte Hill - Besserung nicht in Sicht. Interessanterweise hat ist es ausgerechnet der frühere Fugees-Produzent Salaam Remi, der in Amy Winehouse ein neues Talent gefunden hat, das den ganzen Zirkus brav als böses Mädchen mitmacht.
Das entgegengesetzte Extrem zur kulturindustriellen Totalverweigerung Hills verkörpert Janet Jackson. Mehr und mehr gleicht sie ihrem Bruder in der Obsession, sich bis zur Identitätslosigkeit neu zu erfinden. Mit dem neuen Album "Discipline" möchte sie sich nun vom Nipplegate-Skandal um ihre entblößte Brust erholen. Unter starkem Einsatz des stimmverfremdenden Auto-Tune-Effekts, der bereits Cher zum Comeback verhalf und heute in jeder zweiten R&B-Produktion zu hören ist, präsentiert sich Janet Jackson auf der ersten Single als entpersonalisierter, hochflexibler und tausendfach an den Zeitgeist angepasster Popstar. Unbekümmerter geht Rihanna mit dem Diktat der Veränderung um. Der Jungstar verlegt den permanenten Wandel einfach auf die Musik. In ihren Stilwechseln überschreitet Rihanna die Grenzen der "black music": Sie folgt Grace Jones auf New-Wave-Pfaden und ist sich auch für Kirmes-Techno nicht zu schade. Nicht zuletzt unterläuft Rihanna durch ihre programmatische Gefäßhaftigkeit den Mythos der Authentizität, der auf dem Soul lastet.
Wo sonst als auf dem alten Kontinent hat sich der Glaube an das Echte, die Fixierung auf Ursprung und Essenz in der Soulmusik hartnäckig gehalten. Als Säulenheilige wachen übliche Originale wie Marvin Gaye, Stevie Wonder oder Aretha Franklin über das verlorene Paradies. Zurückführen lässt sich dieses traditionshörige Verständnis, aus dem das Phänomen Amy Winehouse entspringt, auf den Northern Soul. Mitte der Sechzigerjahre gingen tanzwütige Jugendliche aus der Arbeiterklasse im Norden Englands zu amerikanischer Soulmusik ab und legten damit einen der Grundsteine für folgende DJ-Kulturen. Schwarze Musik wurde zum Soundtrack für weiße Rebellion. Und als ob es nie Disco, House und Eminem gegeben hätte, knüpft Winehouse wieder bei Elvis, Chet Baker und den Folgen in Europa an. Passend übrigens zum aktuellen Funk-Revival um damalige Backgroundsängerinnen wie Sharon Jones, deren Band The Dap Kings auch für Winehouse spielt.
Aus afroamerikanischer Sicht dagegen schwingt im Motown-Sound die Anpassung an eine weiße Klientel mit - und somit auch ein Stück Selbstaufgabe. Die explizite Sexualität des frühen R&B wurde gezähmt, die Kanten geglättet und massenkompatibel verpackt. Mit natürlich immer noch fantastischen, nur eben längst vergangenen Ergebnissen. Der mitreißende Backbeat ruft auch Erinnerungen an die Aufbruchsstimmung der Bürgerrechtsbewegung wach. Als deren politische Errungenschaften sich nicht wie erhofft im Alltag niederschlugen, emanzipierte sich die Spitze afroamerikanischer Musiker von den Erwartungen des Mainstreams und schritt mit radikalen Entwürfen voran.
Wenn der amerikanische Soul von heute noch direkt die goldene Vergangenheit anruft, dann allenfalls die Post-Motown-Phase der Fusionen in den Siebzigerjahren. Jill Scott, Angie Stone und Erykah Badu haben den organischen und aktivistischen Geist im Neo-Soul aktualisiert. Auf ihrem kommenden Album "New Amerykah" hält sich Badu darüber hinaus durch Kontakte zur Hiphop-Avantgarde um Madlib und Sa-Ra frisch. Im Video zu ihrer neuen Single "Honey" schreibt sie sich anhand von Plattencovern zudem in eine erweiterte Emanzipationsgeschichte von Funkadelic bis De La Soul ein.
Die spannendere Musik aber passiert dort, wo Neuland betreten wird - auf die Gefahr hin, sich darin völlig zu verlieren. In seinen besten Momenten fordert der amerikanische R&B ein ständiges Werden ein. Die Verwandlungen von Beyoncé & Co können nicht auf Maßnahmen zur größtmöglichen Zielgruppenabdeckung reduziert werden. Sie sind vor allem kreativer Antrieb, durch den das Minoritäre Fluchtlinien aus den herrschenden Verhältnissen nimmt und dominante Vorstellungen sprengt. Das verträgt sich nicht mit einer Idee von Soul als authentischer Ausdruck unterdrückter Seelen, denen es bitteschön auch weiterhin schlecht gehen soll, damit sie gute Musik machen.
Der reaktionäre und paternalistische Mythos des leidenden Künstlersubjekts lebt gerade in der domestizierten Dissidenz von Amy Winehouse und der Sensationslust nach ihren selbstzerstörerischen Eskapaden wieder auf. Darin erscheint die Drogensucht als Bedingung ihrer schöpferischen Kraft. Erzähl das mal Mary J. Blige! Die gestandene Souldiva hat das alles schon hinter sich. Nun ist sie trocken und glücklich verheiratet, bietet also wenig Angriffs- und Projektionsfläche, macht aber die beste Musik ihres Lebens. Alles, was jetzt noch zählt, ist die pure Materialität ihrer Stimme, durch die sie auch in den immer lauter werdenden Beats des aktuellen R&B die Oberhand behält. Mary J. Blige hat ihre Waffe gefunden und gibt sie nicht wieder her.
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