: RAF — wie sie wurde, was sie ist
Von Anbeginn an war die Rote Armee Fraktion (RAF) aktionistisch orientiert. Anmerkungen zum theoretischen Bankrott der Gruppe, welche die Bundesrepublik am nachhaltigsten prägte ■ VON MICHAEL SONTHEIMER
Theoretische Äußerungen der Rote Armee Fraktion waren schon immer spärlich gesät. Seit dem „Deutschen Herbst“ 1977 wurden sie zu Raritäten. Schon aus diesem Grunde provoziert die jüngste Veröffentlichung, das fünf DINA4-Seiten starke RAF-Papier An alle, die auf der Suche nach Wegen sind, wie menschenwürdiges Leben hier und weltweit an ganz konkreten Fragen organisiert und durchgesetzt werden kann, Anmerkungen. Immerhin erlaubt dieses Statement Einblicke in das Weltbild jener linksradikalen Gruppierung, die wie keine andere die Entwicklung der Bundesrepublik seit 1968 beeinflußt hat.
Kein anderes Produkt der antiautoritären Bewegung erlaubte sich ein ähnlich groteskes Mißverhältnis zwischen Theorie und Praxis wie die RAF. Während alle anderen Zirkel und Parteien in einem guten Dutzend von Zentralorganen und in Tausenden von Flugblättern ihre Variante des Marxismus-Leninismus oder verwandter Heilslehren verkündeten, operationalisierte die RAF eine simple Idee — jene, mit der — wenn auch viel später und in einem anderen Kontext — die „Regenbogen-Krieger“ von Greenpeace ungeheure Erfolge erzielen konnten: Handeln statt Reden, Taten statt Warten.
Ihr zutiefst verzweifelter — und schon deshalb zum Scheitern verurteilter — Aktionismus, getragen von einem Kollhaasschen Moralismus, war und ist stärkstes Faszinosum der RAF. Daß diese Gruppe nicht viel redete, sondern zuschlug, brachte ihr anfänglich auch bei manchen unzufriedenen ArbeiterInnen Sympathien ein. Die GründerInnen der RAF postulierten: „Die revolutionäre Theorie ist keine akademische Betrachtung (...), sondern in erster Linie eine Anleitung zum revolutionären Handeln.“ Ulrike Meinhof begründete die ersten Schüsse im nichterklärten Bürgerkrieg zwischen RAF und BRD am 14.Mai 1970 in Berlin: „Unsere Aktion ist und bleibt die exemplarische Aktion der Metropolen-Guerilla. (...) In ihr sind/waren schon alle Elemente der Strategie des bewaffneten antiimperialistischen Kampfes enthalten: Es war die Befreiung eines Gefangenen aus dem Griff des Staatsaparates...“
Verzweifelte Moralisten
Zwei andere Elemente, die die Praxis der RAF prägen sollten, zeigten sich in dieser Befreiung des Gefangenen Andreas Baader allerdings auch schon: Dilettantismus, denn ohne Not wurde ein Unbeteiligter angeschossen und schwer verletzt. Und zweitens der Trend zur „Befreit die Guerilla“-Guerilla, zu der die zweite RAF-Generation nach der Verhaftung der Gründergeneration 1972 mutierte. Mit Horst Mahler und Ulrike Meinhof, zwei ÜberläuferInnen aus dem linksliberalen Establishment, hatte die Gründergeneration immerhin zwei Köpfe, die in der Lage waren, auf dem theoretischen Niveau der Studentenbewegung die Notwendigkeit des Bewaffneten Kampfes zu begründen — oder dies zumindest zu versuchen. „Die Bomben gegen den Unterdrückungsapparat schmeißen wir auch ins Bewußtsein der Massen“, schrieb Mahler in seinem 80-Seiten-Traktat Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa. Unter Berufung auf die Erfahrung vor allem der chinesischen Revolution, aber auch der Pariser Kommune definierte er den „bewaffneten Kampf als höchste Form des Klassenkampfes“ und leitete dieses Credo aus den Klassikern der Revolutionstheorie ab. Die brillante Journalistin Ulrike Meinhof formulierte im Konzept Stadtguerilla Sätze wie: „Die Tropfen und Rinnsale über die Niederträchtigkeiten des deutschen Lebens sammelt bislang noch der Springer-Konzern und leitet sie neuen Niederträchtigkeiten zu.“
Meinhof und Mahler versuchten, ihre an Bakunins „Propaganda der Tat“ erinnernde Strategie der bewaffneten Propaganda aus den bundesrepublikanischen Verhältnissen zu begründen. In dem im Frühjahr 1972 veröffentlichten Dokument Stadtguerilla und Klassenkampf analysierte Ulrike Meinhof ausführlich den Chemiearbeiterstreik des Jahres 1971 und forderte, die „reaktionäre Militarisierung in eine revolutionäre“ umzuwandeln. Ulrike Meinhof hoffte auf soziale Unruhen und Arbeiteraufstände. Auch der von ihr und anderen geplante und durchgeführte Bombenanschlag auf das Hamburger Domizil des Axel-Springer-Verlages stand im innenpolitischen Kontext der „Enteignet Springer“-Kampagne. Gleichzeitig gelang es der RAF mit der „Frühjahrsoffensive“ 1972, ihren antiimperialistischen Anspruch exemplarisch einzulösen. Während die US-Airforce am 11.Mai 1972 über Hanoi, Haiphong und anderen nordvietnamesischen Städten ihre Bombenteppiche niedergehen ließ, explodierte im Hauptquartier des 5.US-Armeekorps in Frankfurt ein Sprengsatz des Kommandos „Petra Schelm“. In der Kommandoerklärung hieß es über den US-Bombenterror in Indochina: „Das ist Genozid, Völkermord, das wäre die Endlösung, das ist Auschwitz.“
Ein Zitat, das zum einen die unscharfen, emotionalen Kategorien der Analyse zeigt, aber auch, wie wichtig der Nationalsozialismus und sein Totschweigen im Wiederaufbau-Deutschland für die erste Generation der RAF, namentlich für Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof waren. Daß die heutige RAF, die mit ihren Gründern nicht viel mehr als den Firmennamen gemein hat, sich zur deutschen Einheit und der wachsenden Fremdenfeindlichkeit weder theoretisch noch praktisch verhalten hat, ist ein Indiz mehr für die politische Degeneration der Epigonen.
Diese Abstinenz ist ein um so größeres Versäumnis, als auch die Terrorismus-Experten der staatstragenden Parteien nie eingestehen wollten und konnten, daß eine entscheidende Wurzel des deutschen Terrorismus jene unvergleichlich verbrecherischere terroristische Vereinigung namens NSDAP war. Für die law and order-Strategen mußten verzweifelte Moralisten wie Ulrike Meinhof entweder Psychopathen oder gewöhnliche Schwerverbrecher sein — anderenfalls hätte man sich mit ihnen politisch auseinandersetzen müssen.
Die erste Generation der RAF nahm den bewaffneten Kampf in einer geopolitischen Situation auf, in der Revolutionen in ganz Südwest- Europa möglich oder gar wahrscheinlich schienen, sich kommunistische Befreiungskämpfer im gesamten Trikont, in Südamerika, Indochina oder Schwarzafrika als Vorbilder und Kampfgenossen für eine Revolutionierung der Metropolen romantisieren ließen. Zusätzlich waren die RAF-GründerInnen zunächst Teil des antiautoritären Milieus Westdeutschlands und genossen hier anfangs durchaus praktische und moralische Unterstützung. Rudi Dutschke billigte beispielsweise die Verwendung von Geldern des Vietnamkongresses für den Aufbau illegaler Strukturen in West-Berlin. Erst als die RAF-Bomben auch Unschuldige zerrissen und deutlich wurde, wie skrupellos Sicherheitsbehörden und Politiker die RAF funktionalisieren konnten, um die gesamte Linke zu stigmatisieren und zu verfolgen, zerbrach diese Solidarität.
Litanei der Kriegslogik
Während sich die radikale Linke, nachdem bei dem Bombenanschlag auf die Hamburger Springer-Zentrale ein Arbeiter zu Tode kam, zunehmend von der RAF distanzierte, wurde im Juni 1972 mit Meinhof, Baader, Ensslin und Raspe die gesamte RAF-Spitze verhaftet. Unter den brutalen Bedingungen der Isolationshaft verbalisierte sich der bewaffnete Existenzialismus der Gefangenen fast nur noch in codierten Exerzitien und verkam zur Litanei einer fundamentalistischen Kriegslogik. In der Stuttgart-Stammheimer Bibliothek der Gefangenen fand sich neben mehreren hundert Bänden diverser Militär-Fachbücher ein einziges literarisches Werk: Nevilles „Moby Dick“ — aus dem prompt neue Decknamen für die interne Kommunikation entlehnt wurden.
Unter der existenziellen Bedrohung in den Hochsicherheitstrakten entwickelten die RAF-Gefangenen eine menschenverachtende Terminologie, in der politische Feinde gemeinhin nur noch „Schweine“ waren. Der Realitätsverlust der Isolation und der verzweifelte Kampf um die Wahrung der politischen Identität ebnete jegliche Differenzierung und Widersprüche in dem ohnehin schon dichotomischen RAF-Weltbild endgültig ein. Beispielhaft kommt dies in dem Abschiedsbrief von Holger Meins, der 1974 nach 42 Tagen Hungerstreik starb, zum Ausdruck: „Entweder Schwein oder Mensch, entweder Überleben um jeden Preis oder Kampf bis zum Tod, entweder Problem oder Lösung, dazwischen gibt es nichts (...) Kämpfend gegen die Schweine als Mensch für die Befreiung des Menschen: Revolutionär, im Kampf — bei aller Liebe zum Leben: den Tod verachtend. Das ist für mich: dem Volk dienen — RAF.“
In dieser Doppelrolle aus Opfer der Staatsgewalt und heroischen Märtyrern gelang es den RAF-Gründern, ihren Nachwuchs zu rekrutieren. Unmenschliche Haftbedingungen, verbunden mit einer politischen Sonderjustiz — dies räumen inzwischen auch aufgeklärte Anti-Terroristen ein —, ermöglichten es der RAF, immer wieder neue UnterstützerInnen und Kader zu gewinnen, welche die zunehmend simplifizierten antiimperialistischen Theorien einfach übernahmen. Christian Klar und seine Kommandos kommunizierten mit den Massen fortan nur noch mittels kryptischer Kommandoerklärungen, in denen die Versatzstücke antiimperialistischer Phraseologie recycelt wurden. Vor allem drückten sich die RAF-Kommandos konsequent um die wichtigsten Fragen herum. Das im Mai 1982 erschiene RAF-Papier Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front zeigte, daß die RAF-Relikte weder willens noch in der Lage waren, ihre eigene Geschichte zu reflektieren. Die Entführung der Landshut im Herbst 1977 wurde als taktischer Fehler verharmlost. Auf die Frage, wie die RAF-Gefangenen nach dem Scheitern des Hijacking zu Tode gekommen waren — Mord oder Selbstmord? —, wurde nicht eingegangen. Ob die Ermordung Hanns-Martin Schleyers als Reaktion auf die Todesfälle in Stammheim richtig war, wurde ebenfalls nicht hinterfragt. Die RAF zeigte sich unfähig zur Selbstkritik.
Zeit für eine schonungslose Diskussion
In den achtziger Jahren reduziert sich die Praxis der RAF auf technisch immer perfektere Attentate. Sie wurde ab Mitte der achtziger Jahre zu einer Gruppe hochprofessioneller Attentäter, die gar nicht mehr versuchten, ihre Aktionen differenziert zu begründen. Auch stehen diese im Gegensatz zu den Anschlägen auf Rechenzentren der US-Airforce, die für die Flächenbombardements arbeiteten, nur noch in einem diffusen Zusammenhang. Die Opfer haben entweder das Unglück, „logistisch machbar“ zu sein oder, wie im Falle Detlef Rohwedders, ein vermeintlich oder tatsächlich populäres Anschlagsziel abzugeben.
Das jüngste Papier erreicht endlich insofern eine neue Qualität, als die RAF — wer immer das noch sein mag — sich dazu bequemt, Ansätze von Selbstkritik zu formulieren. Die AutorInnen nehmen nun zur Kenntnis, daß sich die geopolitischen Konstellationen verändert und die Hoffnungen der frühen siebziger Jahre zerschlagen haben. „Die Befreiungsbewegungen“, heißt es, „waren insgesamt zu schwach, um gegen die auf allen Ebenen ausgeweitete Kriegsführung des Imperialismus durchzukommen.“ Kein Wort findet sich allerdings über die Verbrechen siegreicher Befreiungsbewegungen wie den Roten Khmer in Kambodscha oder über das Scheitern der Sandinisten in Nicaragua. Die AutorInnen räumen zwar endlich auch das militärische Scheitern ihrer Strategie ein, doch es fehlt jeder Ausdruck der Trauer, sowohl über die eigenen Toten als auch über die bald 30 durch die RAF ermordeten Menschen. Das gesamte Papier strömt weiterhin eine menschen- und selbstverachtende Kühle aus, obgleich sich der Eindruck aufdrängt, daß die Gefangenen einfach endlich aus dem Gefängnis und die aktiven Kader vom Druck der Illegalität befreit werden wollen.
Der Untergang der DDR wird nicht explizit erwähnt, doch das Ende des Realen Sozialismus in Osteuropa nehmen die RAF-Reste bedauernd zur Kenntnis: „Der Zusammenbruch des Sozialismus“, heißt es, „hat katastrophale Auswirkungen für Millionen Menschen weltweit und hat alle, die rund um den Globus um Befreiung kämpfen, auf sich zurückgeworfen.“ Aus dieser Passage läßt sich herauslesen, daß die heutige RAF die strategische Allianz mit der Stasi und dem SED- Regime offenbar billigt. Anstatt jedoch dieses für viele Linke schockierende Zweckbündnis zu reflektieren, wird die zunehmende Erfolglosigkeit im Stile eines Parteivorsitzenden begründet, der einräumt, man habe dem Wähler die Botschaft nicht recht vermitteln können: man sei zu wenig „auf andere, die hier aufgestanden sind, zugegangen“.
Groteskeste Passage ist folgende: „Gefehlt hat die Suche nach unmittelbaren positiven Zielen und danach, wie eine gesellschaftliche Alternative hier und heute schon anfangen kann zu existieren.“ Nun macht man sich die Strategie zu eigen, welche die Alternativbewegung auf dem Berliner Tunix-Kongreß 1978 der hoffnungslosen bewaffneten Konfrontation mit dem Staat entgegengesetzt hatte. Werden die RAF-Kader demnächst Kinderläden oder Bäckereien mit Basisdemokratie und Einheitslohn gründen?
Jenseits solchen, zugegeben billigen Spottes ist das Papier in all seiner Ärmlichkeit endlich eine Grundlage, um den überfälligen Dialog mit den RAF-Gefangenen zu beginnen. Antje Vollmer, die Brüder des ermordeten Gero von Braunmühl, Hans Magnus Enzensberger und viele andere haben versucht, die RAF-Gefangenen zu einer Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte zu bewegen und den Sicherheitsbehörden die Notwendigkeit einer politischen Lösung darzulegen. Nach 22 Jahren eröffnet sich heute erstmals die Möglichkeit für eine schonungslose Diskussion. Es wäre unverzeihlich, wenn die politische Klasse, aber auch die Reste der bundesdeutschen Linken, diese historische Chance nicht wahrnehmen würden.
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