■ Querspalte: Bürger an der Front
Wenn Polizeistaffeln eine Stadt regieren und Minderheiten von den Straßen holen, dann haben deren Bewohner ein Problem. Wie weit dürfen sie sich aus dem Fenster lehnen, wenn sie einfach nur ihren Geschäften nachgehen und weder zu den Tätern noch zu den Opfern zählen wollen? In Hannovers Nordstadt, dem traditionellen Übungsgelände polizeilicher Eroberungsversuche, hat man einen Ausweg gefunden. Den Besuch einer früher eher als verpönt geltenden Institution, dem Stammtisch. Genauer gesagt: dem Bürgerstammtisch Chaos-Tage. Während vor der Kneipentür vogelfreie Jugendliche gemustert, verhört und ausgesondert werden, trifft sich eine ganz besondere Sorte Hannoveraner unter dem Dach der Bürgerlichkeit in den Hinterräumen der Gaststätte Kaiser. Sie legen kein Veto gegen das Versammlungsverbot in ihrem Viertel ein. Sie verfolgen kein politisches Ziel. Ihr Beitrag zur Geschichte des zivilen Ungehorsams: Wo Bratkartoffelduft über Sülze aufsteigt und Bierfahnen wehen, wird nicht mehr über politische Hintergründe von Polizeiaufmärschen debattiert. Da gilt es, sich einzurichten, ganz praktisch: mit Notruftelefon, Pressezentrum und Schichtdiensten für freiwillige Helfer. Einsatzfreude ist angesagt, auch zwischen den Fronten.
Erlebnisgastronomie mit demonstrativ ausgestellten Bürgern in Not, das haben die Chaos-Tage bisher gebracht. Der guten, alten Stammtischtradition und einem gnadenlosen Polizeikonzept sei Dank. Doch statt der um Hilfe gerufenen Stadtväter rücken nun Journalisten an. Da werden klare Worte und Action gefordert. Der Durchhaltewillen derer, die von den Chaos-Tagen überrollt werden, wird kaum wiederzuerkennen sein. Aber das ist ein anderes Trauerspiel.
Die Punks tauchen bisher nur als statistisches Zahlenmaterial auf. Als Addition von Festnahmen und Platzverweisen. Vielleicht nehmen sie sich ja doch zu Herzen, was man von Hannover sagt: eine prima Stadt. Zum Durchfahren. Der Stammtisch würde eine Runde schmeißen. Jörg Ihssen
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