■ Querspalte: Germania - Geburtstag in Berlin
Auch Tote haben Geburtstag. Jesus Christus wird nächste Weihnachten 2000 Jahre alt. Man muß aber nicht unbedingt gekreuzigt werden, auferstehen und gen Himmel fahren, um eine posthume Geburtstagsparty zu bekommen. Es reicht auch, sich zu Lebzeiten intensiv mit Untergang und Weltenbrand zu beschäftigen. Das hat Heiner Müller, der heute 70 geworden wäre, reichlich getan. Heute abend feiern in der ganzen Republik alte und junge, überwiegend schwarz gekleidete Menschen den toten Dramatiker. Die Theater sind vorbereitet auf den Ansturm der Müller-Jünger: Vom Landestheater Schwaben in Memmingen bis zum Mittelsächsischen Theater Freiberg/Döbeln gibt es Müller satt.
Die größte Müller-Performance gibt es natürlich in Berlin, etwas verspätet ab April. Parlament und Regierung kommen an die Spree. Die Geburt der „Berliner Republik“ auf den Trümmern der Hauptstadt der DDR, der Reichshauptstadt und der Insel der Freiheit, das wäre ein Stoff für ihn gewesen. Seine Tragödien fand er in Berliner Ruinen, seit er 1951 mit den Allerweltsnamen Müller und Heiner aus dem sächsischen Nirgendwo an die Spree zog. Am Ende ließ er sich am liebsten auf seinem Balkon fotografieren: blaß im Gesicht, aber mit Zigarre im Mund, als Kulisse ein riesiges Neubaugebiet. Müller hat ausgeraucht, ein anderer kommt im Sommer, diesmal aus dem niedersächsischen Nirgendwo, einer mit den Allerweltsnamen Schröder und Gerd. Braungebrannt, nicht blaß. Doch mit Zigarre wird auch er sich fotografieren lassen, auf dem Balkon des Reichstages. Mit dem Neubaugebiet Regierungsviertel als Kulisse wird er sagen: Deutschland „soll in einem guten Sinne deutscher werden“.
Wer weiß, wie Müller das kommentiert hätte. Vielleicht so: „Wie früher Geister kamen aus Vergangenheit / so jetzt aus Zukunft ebenso.“ Auf jeden Fall hat er mit seinem letzten Stück einen Kommentar für die Berliner Republik und für seine heutigen Totengeburtstagsfeiern hinterlassen: „Germania 3 – Gespenster am toten Mann“. Robin Alexander
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