Querspalte:
Leben live – auch mit der Gegenpartei
Wenn man nachts den Fernseher anmacht oder auch am Mittag, wird einem ganz seltsam zumute. Da sind dann die Mitbürger und machen komische Sachen. Das ist nichts Neues, mit Bärbel Schäfer, Jürgen Fliege oder Vera am Mittag. Leben live eben. Nur hab ich das bislang eben noch nicht so verfolgt.Ich dachte ganz ernstlich, es ginge noch wie in den nachgerade humanistischen Talkshows vom Anfang der 90er-Jahre um nette Exhibitionisten, die einem in Schweinchenmaske von ihren großen Leiden und kleinen Freuden erzählen und dergleichen proletarische Vergnügungen mehr, über die sich das Establishment so gerne mokiert, wie neulich die ehemalige „Spiegel-TV“-Frau auf einer der dies Jahr häufig vorbeikommenden Feiern, die verächtlich von „Sex, Sperma und Gewalt“ sprach. Tatsächlich gibt es natürlich weder stilles noch bewegtes Ejakulat im unverschlüsselten Fernsehen und im verschlüsselten glaube ich auch nicht. Stattdessen tolle Sendungen, in denen sich Geschwister, die einander hassen, als freiwillige Gladiatoren unter dem begeisterten Beifall jungdebiler Zuschauer ununterbrochen anschreien, weil sie sich noch nicht schlagen dürfen, in denen große Busen sich entleiben werden, weil kleine eben besser sind oder umgekehrt. Man wird vom Lebensüberdruss angeschrien. Die Verheerungen, die das System in den Köpfen und Herzen der Menschen anrichtet, sind unglaublich.
In Leipzig werden sie in einem Schaufenster des Hotel Mercure zur Verpflichtungserklärung getrieben. Dort sucht ein Plakat ständig Talkgäste für Talkshows im deutschen Fernsehen. „Alle Themen möglich!“ Die Topthemen der Woche sind: „Ich dachte, du bist meine große Liebe, doch ich habe mich geirrt!“, „Leute, die ihren Partner einmal testen wollen, ob er treu ist. Leute, die Lockvögel sein wollen, um Partner zu testen! Auch Pärchen! (...) Gesucht werden auch: Leute, die sich von ihrer Umwelt und ihren Eltern durch Kleidung abgrenzen wollen (z.B. Gothic, Punk etc.). Natürlich auch immer die Gegenpartei.“
Ein paar Meter weiter gibt es eine Stasi-Ausstellung. Der Hund entwendet dem Herrn seine Peitsche und peitscht sich nun selbst. Detlef Kuhlbrodt
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