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Quellenedition zum HolocaustEin Echolot des Terrors

In den Bänden 3 und 5 der ambitionierten Quellenedition zur „Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden“ geht es erstmals um Arbeiterwiderstand.

Das ehemalige KZ in Auschwitz: Nach dem Überfall auf die Sowjetunion wird die Vernichtungspolitik radikalisiert. Bild: dapd

„Glauben Sie nicht, Herr Marschall, dass ein Unterschied gemacht werden muss zwischen uns, den französischen Juden und den Ausländern, denen wir in keiner Weise ähnlich sind? Dass gegenüber Ausländern, die wir allzu großzügig in Frankreich aufgenommen haben, bestimmte Maßnahmen ergriffen werden, ist normal. Aber dürfen wir zu ihnen gerechnet werden, weil wir von Geburt einer Minderheitenreligion angehören?“

Dieses anonyme Schreiben schickte ein nach eigenem Bekunden alt eingesessenes jüdisches Familienoberhaupt am 12. Februar 1942 an Marschall Pétain, den Staatschef Vichy-Frankreichs. In diesen Zeilen ist bei aller devoten Haltung Entsetzen spürbar angesichts der Willfährigkeit des verehrten Staatschefs gegenüber den deutschen Besatzern. Wie konnte der Marschall uns, die patriotischen Juden, mit dem aus Osteuropa geflüchteten Pack gleichstellen?

Wie geschickt die NS-Besatzungsmacht konservative Eliten in den besetzten Ländern in Dienst nahm, und wie es ihr gelang, Teile der Gesellschaft über die radikalen Zielsetzungen ihrer „Judenpolitik“ zu täuschen, davon legt der jetzt vorliegende Band 5 der Reihe „Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland“ Zeugnis ab. Der Band untersucht Norwegen, die Benelux-Staaten und Frankreich vom deutschen Überfall bis zum Beginn der massenhaften Deportationen, also von 1940 bis Juni 1942.

Entrechtet, ausgeplündert

Trotz der enormen Unterschiede zwischen den jüdischen Bevölkerungen dieser Länder, was ihre Zahl, ihren politischen wie kulturellen Status anbelangt, gibt es in allen besetzten Ländern West- und Nordeuropas eine Gemeinsamkeit, die die Autoren und Dokumentaristen präzise herausarbeiten: die beharrliche, taktisch geschickte, aber in seinen Verlaufsformen unverrückbare stufenweise Entrechtung der jüdischen Bevölkerung.

Das begann mit der Zusicherung der Besatzungsmacht, die „Judenfrage“ in dem besetzten Land nicht anzurühren, bald gefolgt von der Verpflichtung der Juden, sich und ihr Vermögen registrieren zu lassen, dann Entlassung der Juden aus dem Staatsdienst, Ausplünderung durch Sondersteuern, Einschränkung der Freizügigkeit bis zur Ghettoisierung, Verbot jeder Teilhabe an der Mehrheitsgesellschaft und schließlich – der gelbe Stern.

Für die deutschen Besetzer war es wichtig, dass wenigstens ein Teil der laufenden Verwaltungsgeschäfte durch die jeweilige einheimische Bürokratie übernommen wurde. Gerade die Bereitschaft der gehobenen Administration, die Anordnungen der Deutschen durchzusetzen, erwies sich als sehr elastisch. So lehnten die niederländischen Staatssekretäre es zwar ab, einen „Ariernachweis“ ihrer Beamten einzufordern, beschlossen dann dennoch, die Maßnahme durchzuführen. Zumindest aus der Lektüre der Dokumente des Bandes gewinnt man den Eindruck, dass die belgische Bürokratie im Gegensatz zur holländischen zäheren Widerstand leistete, zum Beispiel durch die Weigerung des Brüsseler Bürgermeisters, die Verteilung der Judensterne zu übernehmen.

Was fassungslos macht

„Gut, dass man nicht in die Zukunft schauen kann“, schreibt Willy Cohn, jüdischer Deutscher aus Breslau am 10. September 1939 düster in sein Tagebuch. Die Wehrmacht hat vor ein paar Tagen Polen überfallen, und Cohn, Historiker, Lehrer, Sozialdemokrat und hochdekorierter Veteran des Ersten Weltkriegs, ist ein empfindlicher Beobachter, der sofort das Entscheidende registriert. „Die Stimmung ist doch eine sehr antisemitische. Ein Weib rief nach uns Judenpack. Für diesen Krieg wird man das Judentum verantwortlich machen, weil man glaubt, dass es hinter England und Polen stand.“

Der dritte Band der Quellenedition zeigt, was im deutschen Reich und den einverleibten Protektoraten in Polen und der Tschechoslowakei von Kriegsbeginn 1939 bis September 1941 geschah. Dies ist die Inkubationszeit des forcierten, technisch exekutierten Massenmordes. Und es kommt so, wie Willy Cohn es 1939 hellsichtig befürchtet: Der Krieg, den NS-Deutschland führt, wirkt wie ein Brandbeschleuniger bei der Vernichtung der europäischen Juden.

Zum einen fallen mit den militärischen Erfolgen der Wehrmacht dem NS-System Millionen Juden in die Hände. Zum anderen radikalisiert sich mit dem Krieg die antisemitische Gewaltpolitik. Noch im Sommer 1940 entwirft das Auswärtige Amt den Plan, 3,7 Millionen Juden nach Madagaskar zu deportieren, wo sie, abgeschottet vom Rest der Welt und unter der Herrschaft der SS, mehr vegetieren als überleben sollen.

Der Plan wird nicht weiter verfolgt, schon weil Nazi-Deutschland den Seeweg nicht kontrolliert. Bei den Planern der Judenverfolgung wächst indes der Wille, die Juden, wo es geht, zu ghettoisieren, einzusperren und abzukapseln.

Der Überfall auf die Sowjetunion

Der Plan, alle Juden zu ermorden, nimmt in dem Moment konkrete Gestalt an, als Hitler den Überfall auf die Sowjetunion ins Auge fasst. Denn dort soll kein Feldzug wie im Westen stattfinden, sondern ein rassistischer Vernichtungskrieg, in dem feindliche Offiziere erschossen werden und der Hungertod von Millionen slawischen „Untermenschen“ einkalkuliert ist. Die Dokumente, die auf den Holocaust fokussiert sind, zeigen, dass der Terror gegen die Juden zeitgleich mit dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion 1941 völlig entgrenzt wird. Massenerschießungen von Zivilisten gab es in Polen und Jugoslawien: allerdings meist beschränkt auf Männer und Racheaktionen.

Nach 1941 setzen sich die Deutschen im Osten über alle zivilisatorischen Grenzen hinweg. Das zu wenig beachtete Massaker in Kamjanez-Podilskyj, im Westen der Ukraine, ist ein Wendepunkt in der Terrorpraxis von SS und Wehrmacht. Dort töten eine SS-Einheit und ein Polizeibataillon vom 27. bis zum 29. August 1941 23.600 Juden, Frauen, Kleinkinder, Männer, Greise, per Genickschuss.

Der Krieg der Nazis katalysiert die Vernichtungspolitik, die entfesselte Gewalt regiert. Willy Cohn wird im November 1941 in Litauen ermordet, mit seiner Frau und den beiden Töchtern, neun und drei Jahre alt.

Wenn man diese Dokumente liest, das ratlose Entsetzen der Vertriebenen, die Hetze der Nazi-Propaganda, die kalte Sprache der Verwaltung, die immer neue Schikanen für die Juden erfindet, die wenigen erhaltene Dokumente aus Sicht der Opfer, die Massaker bezeugen, enthüllt sich ein Maß an Schrecken, die das Schicksal von Einzelnen bedeutungslos erscheinen lassen.

Was wiegt der Selbstmord der 72-jährigen Rica Neuburger, die nicht aushält, „was man uns antut“, gegen das, was an zwei sonnigen Tagen in den Hügeln vor Kamjanez-Podilskyj geschah? Wer sich in diese Quellen vertieft, dem zerrinnt der Versuch, eine angemessene Haltung zu dem Geschehen zu finden, zwischen den Fingern. Man wird immer wieder in den Modus der Fassungslosigkeit zurückgeworfen.

Die Dokumente zeigen, was Täter, Opfer und Zuschauer taten, auch die Denunziationen von Volksgenossen. Elisabeth Butenberg aus Rheydt ist die Judenpolitik zu lasch. Beim NSDAP-Ortsgruppenleiter beschwert sie sich 1941, dass sie noch immer in der Straßenbahn in der Nähe von Juden sitzen muss und schlägt daher vor, dass die Reichsbahn „besondere Judenabteile“ einrichten möge, um diese Zumutung zu beenden.

Das Bild ist allerdings nicht monochrom. Es gab auch kleine, alltägliche Gesten der Solidarität. Die tschechische Jüdin Eva Roubichkova, die am 19. September 1941 in Prag erstmals den gelbem Stern tragen muss, notiert in ihrem Tagebuch: „Die Leute haben es entweder ignoriert oder gelächelt, jedenfalls haben sie sich anständiger benommen, als ich es erwartet hätte.“

Streik gegen Deportation

Und es gab inmitten der Zwangslagen, der stetigen anwachsenden Pressionen und des zunehmenden Terrors einen Befreiungsschlag, ein Fanal des Widerstands. Die holländischen ArbeiterInnen traten im Februar 1941 zugunsten ihrer drangsalierten jüdischen KollegInnen in den Generalstreik. Der Streik richtete sich gegen die Zwangsdeportation jüdischer Arbeiter, die die deutschen Besatzer als Reaktion auf Proteste gegen das provokatorische Auftreten holländischer Nazis verhängt hatten.

Der Streik wurde im öffentlichen Sektor fast vollständig befolgt und schien sich am zweiten Tag auf eine Reihe anderer holländischer Städte auszudehnen. Er benötigte keine Vorbereitungszeit und lief vollständig spontan ab. Den Autoren/Dokumentaristen des Bandes 3 gelingt es, die verschiedenen Sichtweisen der Beteiligten geschickt nebeneinanderzustellen.

Für die deutschen Besatzer war die Version, dass dieser Streik spontan entstand, völlig unakzeptabel. Sie konnten sich die Aktion nur als eine straff von oben organisierte vorstellen. Nach einem kurzen Moment der Verblüffung bei den Deutschen setzte die geballte Repression ein.

„Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945“, Band 5, „West- und Nordeuropa 1940 – Juni 1942“, Katja Happe, Michael Mayer, Maja Peers (Bearbeiter), München 2013, 880 S. Band 3, „Deutsches Reich und Protektorat September 1939 – September 1941, Andrea Löw (Bearbeiterin), München 2012, 800 S. Jeweils 59,80 Euro

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1 Kommentar

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  • RS
    ruth spicker

    Sehr geehrte Verfasser,

    vielleicht ist es Ihnen nicht geläufig: unter diesen von Ihnen angemerkten Arbeiterwiderstand ab dem 10.01.1933 gab es nicht wenige JUDEN.

    Zumindest in BERLIN: Mein Vater -seit 1928 Mitglied im KJVD und RFB- und zwei seiner 4 Brüder genauso. Im Gegensatz zu manchen "Kommunisten", die quasi über Nacht anderntags in einer SA-Uniform auftraten, hatten sie keine Wahl: sie waren Beides.

    Nur über sie wird nicht berichtet, es ist als hätte es sie nicht gegeben.

    Vor Jahren war ich auf einer Veranstaltung der Uni Marburg, da wurde darüber reflektiert, welche Juden uns heute fehlen.

    In Berlin ist es nicht viel besser, weil es gerade in Berlin ganze Straßenzüge im damaligen Prenzl.Berg, Mitte und Friedrichshain gab in denen Juden lebten, neben den nichtjüdischen Arbeiter, kleinen Angestellten. Gerade dort waren die Juden sehr bewußt proletarisch: Sozialdemokraten , Kommunisten und progressiv eingestellte Gewerkschafter. Nur es hat ihnen nichts genutzt; sie wurden deportiert und kamen zumeist nicht wieder. Ruth Spicker (JG 1947)