Queeres Leben in der Ukraine: „Nach dem Krieg wird es schlimmer“
Wadim Jakowlew ist queer und Autor*in. Ein Gespräch, wie Queers den Krieg in der Ukraine erleben und wie eine Zukunft aussehen könnte.
taz: Wo sind Sie gerade? Und wie geht es Ihnen?
Wadim Jakowlew: Ich bin in Lwiw, das ist im Moment die sicherste größere Stadt in der Ukraine. Viele Menschen aus anderen Städten flüchten gerade hierher, um hierzubleiben oder weiter nach Polen, Rumänien, Ungarn oder Deutschland zu fliehen. Mir geht es so weit gut, ich versuche Zivilist*innen zu helfen, die vor dem Krieg flüchten, und organisiere Unterkünfte für sie. Aber ich mache mir große Sorgen um meine Familie. Meine Verwandten wohnen im Süden des Landes, der gerade ein wichtiges Angriffsziel für Putin ist. Ich hoffe, meine Familie kann die Ukraine verlassen.
Im Moment dürfen Männer im kampffähigen Alter die Ukraine nicht verlassen. Das betrifft auch queere Menschen wie Sie, die sich nicht als männlich identifizieren, aber laut Pass männlich sind.
Laut Gesetz haben in Kriegszeiten nur Frauen und Kinder das Recht, das Land zu verlassen. Für trans und nichtbinäre Personen, bei denen „männlich“ im Pass steht, ist das ein großes Problem. Ich weiß, dass einige trans und nichtbinäre Menschen versuchen, das Land illegal zu verlassen, was sehr gefährlich ist. Es ist so, dass wir als queere Menschen auf staatlicher Ebene quasi nicht existieren, unsere Probleme sind der Regierung und dem Großteil der Bevölkerung egal.
Wadim Jakowlew, ist 31 Jahre alt und Schriftsteller*in aus der Ukraine. Vor zwei Jahren erschien Jakowlews Roman „Wo das Territorium beginnt“, einer der ersten queeren Romane der ukrainischen Literatur.
Für queere Menschen war es schon vor dem Krieg nicht leicht in der Ukraine, sie haben mit Diskriminierung und Marginalisierung zu kämpfen. Bedeutet das, dass auch jetzt während des Krieges queere Menschen es schwerer haben als andere?
Ja, die Ukraine ist ein sehr konservatives Land. In einer Extremsituation wie dem Krieg denken nur wenige daran, wie es Minderheiten geht. Die meisten sehen uns nicht und wollen uns auch nicht sehen. Für sie sind wir Bürger*innen zweiter Klasse. Es gab den Fall, dass ein trans Mann in einem Luftschutzkeller Schutz suchen wollte, aber seine Nachbarn haben ihn nicht reingelassen. Weil er trans ist. Und Rassismus ist auch ein Problem in der Ukraine. Ich habe gelesen, dass die ukrainischen Grenzbeamten an der Grenze zu Polen ukrainische Bürger*innen bevorzugt behandelt haben, besonders die, die weiß sind. Schwarze Studierende wurden nicht durchgelassen. Das schmerzt mich, ich habe erst vor ein paar Monaten einen Artikel über eine schwarze Ukrainerin geschrieben, die hier geboren wurde. Sie sagte, dass die Gesellschaft dabei ist, toleranter und weniger rassistisch zu werden, aber es dauert.
Führt der Krieg nicht dazu, dass die Ukrainer*innen sich über die Unterschiede hinweg als Gemeinschaft verstehen?
Es ist eine komplexe Situation, ich kann nicht sagen, dass das stimmt oder nicht stimmt. Ich kann nur das berichten, was ich erlebt habe. Eine meiner Freundinnen ist eine trans Frau. Sie war vor einigen Jahren in der Armee. Als die Lage eskalierte und die Invasion begann, zog sie ihre Uniform an und wollte zum Einberufungsbüro gehen. Auf der Straße wurde sie von Zivilist*innen umringt, die dachten, sie wäre ein russischer Saboteur, weil sie für sie aussah wie ein „Junge in Mädchenkleidern“. Diese transfeindlichen Menschen ließen sie nicht durch und wollten ihre Papiere sehen. Als sie ihren ukrainischen Pass zeigte, glaubten sie ihr immer noch nicht. Die Polizei kam ihr zu Hilfe und sie konnte sich zur Armee melden. Die anderen Soldat*innen haben sich ihr gegenüber tolerant verhalten. Sie sehen sie als eine von ihnen, weil sie gegen Putins Armee kämpfen will.
Wenn Putin Erfolg hat und er die Ukraine zum Teil eines neuen „Russischen Imperiums“ machte, würde das bedeuten, dass Homo- und Transphobie zur Staatsräson würden und queere Ukrainer*innen nicht nur unter russischer Besatzung leben müssten, sondern auch mit noch stärkerer Diskriminierung zu kämpfen hätten. Aber auch ein Sieg der Ukraine würde die Situation für LGBTQ-Personen im Vergleich zur Zeit vor dem Krieg wahrscheinlich nicht verbessern. Es könnte sich ein martialischer, wahrscheinlich ziemlich queerfeindlicher Nationalismus ausbilden, oder?
Absolut. Es macht mich ziemlich traurig. Lassen Sie mich die spezifische Situation erklären, in der wir uns befinden. Die Zivilgesellschaft in der Ukraine ist eine Mischung aus Konservativen, Liberalen und Nationalisten. Für die sind alle, die sich als links verstehen, Feinde oder „prorussisch“. Dabei sind die meisten Linken gegen Putin, auch wenn es einige gibt, die sich gegen die Nato und den westlichen Imperialismus aussprechen. Ich kenne einige talentierte linke Wissenschaftler und Kulturschaffende, die das Land verlassen mussten, weil sie in diesem nationalistischen Klima nicht arbeiten konnten. Und was die queere Bewegung betrifft – die großen, etablierten LGBTQ-Organisationen sind sehr patriotisch.
So ist es auch mit der feministischen Bewegung. Seit dem Maidan gibt es zwar mehr Sichtbarkeit. Aber es sind vor allem die Stimmen von privilegierten, weißen, gebildeten, großstädtischen Frauen und Queers, die Gehör finden. Sie versuchen zwar, eine tolerante ukrainische Gesellschaft aufzubauen, aber ich denke nicht, dass ihre rechtsliberale, patriotische Haltung dazu beitragen wird. Wir haben jedes Jahr eine Pride-Parade, aber den Umfragen zufolge hat sich an der Homophobie in der Gesellschaft kaum etwas geändert, und an der Misogynie ebenso wenig. Ich denke, dass nach dem Krieg die Situation noch schlimmer sein wird.
Gibt es in Ihren Augen irgendein Szenario, in dem queere Menschen in der Ukraine in Zukunft ein besseres Leben haben könnten?
Zuerst einmal will ich, dass dieser Krieg endet und dass Putins Regime fällt. Dann wären die Ukrainer*innen und die Russ*innen frei. Ob ich eine optimistische Zukunftsvision für mein Land nach dem Krieg habe? Ich weiß es nicht, ich kann es nicht sagen. In meinem Debütroman „Wo das Territorium beginnt“, der gerade ins Englische übersetzt wird, ging es mir um die Frage, was uns im 21. Jahrhundert zu Menschen macht. Ich hoffe, dass wir, wenn Putins Regime fällt, erfahren werden, was menschlich ist, und darauf unser Leben aufbauen. Denn in meinen Augen hat die heutige Welt ihre humanistische Vision verloren, die Idee davon, wer wir als Menschen sind. Wir müssen humanistischer werden und Verantwortung für die Zukunft übernehmen.
Gibt es irgendetwas, was Sie sich von den Menschen in Deutschland und anderen Ländern wünschen?
Bitte, drängen Sie ihre Regierungen dazu, mehr Sanktionen gegen Putins Regime zu verhängen! Bieten Sie den Ukrainer*innen humanitäre Hilfe an und helfen Sie dabei, in Ihren Ländern Arbeit und ein Zuhause für diejenigen zu finden, die vor dem Krieg aus der Ukraine geflohen sind.
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