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QUERSPALTEDas Ende des kaukasischen Tatmenschen

■ Die Tropen kommen zu uns, wir beantragen klimatisches Asyl

Sein Blick war matt. Nur im Slip, doch unaufhörlich schwitzend, saß mein Wohngenosse vor dem TV-Gerät. Daß er Olympia in Barcelona wirklich „verfolgt“ hätte, wäre eine Übertreibung; daß seine erbarmungswürdige Körperhaltung mit „sitzen“ zutreffend charakterisiert wäre, ebenfalls. Er erinnerte an eine Amöbe kurz vor dem Hirnschlag. Nach zehn Minuten des nur von sporadischem kraftlosem Stöhnen unterbrochenen Schweigens konzentrierte er seine Restenergie und versuchte sich zu einer gedanklichen Anstrengung aufzuraffen. Soeben hatte die 4-mal-100-Meter- Staffel der USA, in Gestalt von vier baumlangen Schwarzen, eine Goldmedaille ersprintet. „Die Neger rennen, und die Weißen sehen zu“, beschrieb er das vertraute Bild. „Das ist die Arbeitsteilung im Zeitalter der Klimakatastrophe. Die Neger schuften, wir schwitzen auch so.“

Mein Wohngenosse ist, oder besser: war einmal ein an kühle Klimata gewohnter Kaukasier, ein europäischer Tatmensch. Vernünftig, verantwortlich, effektiv, unternehmungslustig. Damit ist es unwiderruflich vorbei. Dank des Treibhauseffektes respektive der Klimakatastrophe können wir in diesen Tagen den graduellen Zusammenbruch dieser Spezies im kollektiven Selbstversuch studieren. Schwitzend und mutlos schleppen sich die Protagonisten von Fortschritt und Zivilisation an ihr Tagwerk. Die Disziplin verfällt, der legendäre Arbeitsethos erodiert unaufhaltsam. Bei manchen schwindet das sexuelle Verlangen, bei anderen der Appetit. Das Gehirn scheint von Tag zu Tag zu schrumpfen. Selbst konsequentes Nichtstun überfordert die Kräfte, auch hartnäckige Aktivisten degenerieren zu couch potatoes. Und tief erschöpft vom puren Überleben unter solchen feindlichen Bedingungen wälzen sie sich nächtens schweißgebadet in Schlaflosigkeit.

Die von Wüstenwinden und tropischen Temperaturen gepeinigten Gestalten erinnern an die Romane Joseph Conrads, der so trefflich schilderte, wie Almeyer und andere Weiße in den schwülen Tropen Borneos in Stumpfsinnn, Resignation und nackten Wahn verfallen. Oder die köstlichen Kurzgeschichten Somerset Maughams von englischen Kolonialoffizieren, die auf gottverlassenen outposts heroisch auf die Minute pünktlich ihre teatime zelebrieren — bis auch sie sich dem Alkoholismus, heidnischem Animismus, native women, dem Opium oder anderen Lastern ergeben.

Damals gingen die europäischen Tatmenschen in die Tropen — auf eigene Verantwortung, denn jeder wußte, worauf er sich dort einließ. Heute kommen die Tropen zu uns. Die an solche klimatischen Bedingungen gewöhnten Menschen sind schon längst da. Bald werden sie den Laden übernehmen. Und wir? Wir beantragen klimatisches Asyl in Island, Sibirien oder Grönland. Transport nur auf der Couch. Michael Sontheimer

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