Putschversuch in der Türkei: Ringen um die Macht über die Armee
Teile des Militärs erklären, die Kontrolle über das Land zu haben. Die Regierung widerspricht. Bei Kämpfen zwischen den Lagern sterben mehrere Menschen.
Dieser Beitrag berichtet über eine sich entwickelnde Nachrichtenlage und wurde bis Samstag, 2.50 Uhr, laufend aktualisiert. Neue Entwicklungen am Samstagmorgen lesen Sie hier.
Der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim erklärte gegen 2 Uhr MESZ (3 Uhr Ortszeit) nach Angaben aus dem Präsidialamt, Armeechef Hulusi Akar habe die Kontrolle über die Streitkräfte. Die Putschisten hatten den Sender zwischenzeitlich unter ihre Kontrolle gebracht. Auch ein Sprecher des türkischen Geheimdienstes MIT sagte dem Sender CNN Türk, der Putschversuch sei „abgewendet“. Auch der türkische Staatssender TRT ist wieder auf Sendung.
Aus dem Präsidialamt hieß es, bei den Putschisten handele es sich „um eine kleine Gruppe“ von Offizieren aus der Gendarmerie und der Luftwaffe, die Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen nahestehen. Die Gülen-Bewegung hat sich jedoch von dem Militärputsch in der Türkei distanziert. „Wir verurteilen jede militärische Intervention in die Innenpolitik der Türkei“, schrieb die Bewegung in der Nacht zu Samstag in einer Erklärung an die Nachrichtenagentur AFP.
Früher am Abend hatte Ministerpräsident Binali Yildirim bestätigt, dass Militärs einen Putschversuch gestartet hätten. „Das ist ein Angriff gegen die türkische Demokratie“, teilte das Präsidialamt mit.
Erdogan ruft seine Anhänger zu Protesten auf
Aus dem Präsidialamt verlautete, Staatsoberhaupt Recep Tayyip Erdogan sei in Sicherheit. In einem Telefoninterview rief Präsident Recep Tayyip Erdogan die Bevölkerung zu Demonstrationen für seine Regierung auf. Er sagte: „Ich rufe unser Volk auf, sich auf den Plätzen und am Flughafen zu versammeln. Sollen sie (die Putschisten) mit ihren Panzern und ihren Kanonen machen, was sie wollen.“ Den Umsturz nannte er am Freitagabend einen „Versuch einer Minderheit in unseren Streitkräften“.
Das türkische Parlament in Ankara ist laut einem Medienbericht von einer Bombe getroffen worden. Dies meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu am frühen Samstagmorgen. Im Militär-Hauptquartier in Ankara sind nach einem Bericht des Senders CNN Türk einige Geiseln genommen worden. In der Nähe des Polizei-Hauptquartiers seien Schüsse zu hören gewesen. Unter den Geiseln im Armee-Hauptquartier in Ankara befindet sich der Nachrichtenagentur Anadolu zufolge der Militär-Stabschef.
Bei einem Hubschrauberangriff auf das Hauptquartier von Polizeispezialeinheiten in Ankara sollen 17 Polizisten getötet worden sein. Dies meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu. Außerdem haben Kampfflugzeuge in der Nacht zu Samstag einen Helikopter der Putschisten abgeschossen. An Bord seien „Putschisten“ gewesen, hieß es aus dem Umfeld des Präsidialbüros.
Berichte von Schüssen auf Demonstranten
In Istanbul waren nach Augenzeugenberichten Schüsse in den Straßen zu hören. Kampfjets flogen im Tiefflug über die Stadt. Gegen 2.40 Uhr Ortszeit (1.40 MESZ) wurde Istanbul von einer schweren Explosion erschüttert. Der Hintergrund war zunächst unklar. Auch sollen laut einem Bericht in Istanbul türkische Soldaten auf Gegner des Militärputschs geschossen.
Die Nachrichtenagentur DHA berichtete, in Istanbul seien sechs Zivilisten durch Schüsse getötet und fast hundert verletzt worden. Die Toten und Verletzten seien in ein Krankenhaus auf der asiatischen Seite der Stadt eingeliefert worden. Es habe Verletzte gegeben, meldete die Nachrichtenagentur Dogan in der Nacht zum Samstag. Die Demonstranten hätten versucht, aus Protest gegen den Umsturzversuch die Bosporus-Brücke zu überqueren, hieß es. Auf TV-Bildern war zu sehen, wie Menschen dort in Panik Deckung suchten, als Schüsse fielen.
Der Zugang zu Online-Diensten wie Facebook, Twitter und YouTube in der Türkei ist nach Angaben von Internet-Beobachtergruppen eingeschränkt. Das Militär hat einem Medienbericht zufolge den Flugverkehr am Atatürk-Flughafen in Istanbul gestoppt. Soldaten hätten den Tower am größten Flughafen des Landes am Freitagabend unter ihre Kontrolle gebracht, meldete die private Nachrichtenagentur DHA.
Alle vier Parteien im türkischen Parlament – auch die drei Oppositionsparteien – sprachen sich gegen den Putschversuch aus. Das teilten sie in Stellungnahmen im Fernsehen und bei Twitter mit. Die ultrarechte Oppositionspartei MHP erklärte in dem Kurznachrichtendienst, sie sei „gegen jede Art von nicht demokratischen Bestrebungen.“ Die Putschisten sollten vor Gericht gebracht werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit