Pune nach dem Bäckerei-Attentat: Keine Zeit, um zu erschrecken
Vor sechs Tagen erschütterte ein Attentat die Millionenstadt Pune. Die BewohnerInnen nehmen es erstaunlich gelassen. Pune verändert sich so schnell, da hat niemand Zeit für Fanatismus.
Der populäre Innenminister Palaniappan Chidambaram war vor Ort. Truppen von der Antiterroreinheit der Polizei aus Delhi flogen ein. Die großen nationalen Nachrichtensender berichteten zwei Tage fast rund um die Uhr aus Pune. Doch am Tatort des schwersten Attentats, das Indien seit den Terroranschlägen von Mumbai im November 2008 erlebte, herrscht schon 24 Stunden nach dem Ereignis wieder erstaunliche Gelassenheit. Polizisten haben eine orange Plane mit Blumenmuster, wie man sie in Indien oft bei Gartenfesten benutzt, um den Ort des Verbrechens gezogen. Sie haben die üblichen hüfthohen Eisengitter zur Verkehrsregelung rund um den Tatort aufgebaut. Hinter ihnen stehen die Ordnungshüter nicht etwa stramm mit Gewehr bei Fuß - stattdessen haben sie Holzhocker aufgestellt, auf denen sie sitzen und sich unterhalten. Einen Tag später bewachen weibliche Polizisten den Ort des Anschlags, auch sie sitzen auf den Hockern, statt Wache zu schieben. Das Fernsehen zeigt ihre Bilder. Hat es der indische Staat nicht nötig, Stärke nach einem Terroranschlag zu demonstrieren?
Neeti Badwe versteht die Frage nicht. "Warum sollen sich die Polizisten nicht hinsetzen? Das spielt doch keine Rolle", sagt die Germanistikprofessorin von der Universität Pune. Sie steht vor dem Tatort: ein zweistöckiges Gebäude mit Zahnarztpraxis und Juwelierladen in Punes vornehmstem Viertel Koregaon Park. Sie kennt den Ort gut. Im Erdgeschoss befand sich das Café, in dem eine Kofferbombe am vergangenen Samstag bislang 11 Tote und 60 Verletzte forderte - manche Opfer befinden sich noch immer in Lebensgefahr. Das heute völlig zerstörte Café nannte sich "Deutsche Bäckerei". Es war mehr Imbissbude als Mövenpick, aber in Pune eine Institution. Ein deutscher Anhänger des Gurus Osho hatte vor zwanzig Jahren bei seinem Aufbau geholfen. Hier gab es bis Samstag Vollkornbrot, Kuchen und Kaffee zu relativ günstigen Preisen. Badwes deutsche Kollegen vom lokalen Goethe-Institut, das nur einen kurzen Gang entfernt liegt, waren regelmäßige Gäste. Ebenso die zahlreichen deutschen Freunde Badwes, deren deutsche Firmen in Pune investiert haben und die nun im Koregaon Park in teuren Villen wohnen. "Viele von ihnen hörten die Explosion. Sie waren alle so erschrocken", sagt Badwe. Doch der Schreck blieb ganz auf deutscher Seite.
"Ich bin Punerin", sagt Badwe, als erkläre das schon, warum sie sich wegen des Attentats nicht aufregt. "Die Terroristen wollten Ausländern Angst einjagen", sagt sie. Die Professorin scheint immun gegen den Terror. Von der Stelle des Unglücks überquert sie die Nördliche Hauptstraße und führt mit wenigen Schritten zum Chabad House, dem jüdischen Gemeindezentrum von Pune. Der einfache Bau ist mit Mauern aus Sandsäcken geschützt. Hinter ihnen sitzen wieder Polizisten auf Holzhockern. In Mumbai wurde das Chabad Lubavitch Zentrum im November 2008 von Terroristen angegriffen, das leitende Rabbinerehepaar und vier weitere Personen ermordet. Insgesamt töteten die Terroristen bei dem Angriff auf verschiedene Ziele in Mumbai 163 Menschen. Seither galt auch das Chabad House in Pune als mögliches Ziel eines Anschlags. Dennoch bleiben die Sicherheitsvorkehrungen primitiv. Badwe stört das wieder nicht. Sie erzählt eine ganz andere Geschichte: Von den Marathen des 18. Jahrhunderts, die von Pune aus als Letzte in Indien gegen die Briten gekämpft hätten. Pune habe damals seine erste Blüte erlebt und viele Juden und Parsen aus dem Nahen und Mittleren Osten angezogen. Deshalb gebe es bis heute eine angesehene jüdische Gemeinde in Pune. Seit zwanzig Jahren aber, so Badwe, erlebe Pune nun seine zweite Blüte. Ihre Stadt sei heute das "Oxford Indiens", die "kulturelle Hauptstadt des Landes", sagt Badwe.
Die Indizien stimmen: Die Einwohnerzahl Punes hat sich seit 1990 in nur 20 Jahren auf 4,5 Millionen verdoppelt. Die Bevölkerung ist jung und gebildet. Zwei Millionen sind im Schul- oder Studentenalter. 200.000 studieren für ihren Bachelor, 60.000 für ihren Master. Jedes Jahr absolvieren 43.000 Studenten in Pune ihr Ingenieursstudium. Fast jede Woche wird eine neue Schule oder ein neues Universitätsinstitut in der Stadt eröffnet. Deshalb kämen die jungen Leute von überall hierher, sagt Badwe. Die Hälfte aller ausländischen Studenten in Indien studierten in Pune. "Pune ist so bekannt, so attraktiv", sagt Badwe. Noch an den Todesopfern der Terroristen liest sie den Erfolg ihrer Stadt ab: Acht von den elf seien zugezogene Studenten und junge Akademiker - aus Delhi, Kalkutta, Bangalore, Mumbai und Iran.
Die Professorin ist so vollgepumpt mit Euphorie für den Boom im Erziehungswesen von Pune, dass sie der Anschlag vom Samstag innerlich nicht berührt.
Osman Hiroli tut sich da nicht so leicht. Der muslimische Unternehmer und Politiker kennt zu viele, die nicht am Boom teilhaben. Muslime stellen in Pune 15 Prozent der Einwohner - und 40 Prozent der Slumbewohner. Siebzig Prozent von ihnen leben offiziell in Armut. Hiroli erzählt: Bei Kricketspielen zwischen Indien und Pakistan stünden die armen Muslime in den Slums von Pune auf der Seite Pakistans. Daran hätten auch die von Pakistanern verübten Anschläge auf Mumbai nichts geändert. Und dennoch: "Pune ändert sich rasant. Keiner hat hier Zeit für Fanatismus", sagt Hiroli. Er ist Textilfabrikant und war 10 Jahre lang für die regierende Kongresspartei im Stadtrat von Pune. Im Ehrenamt ist er heute Vorsteher eines muslimischen Mädchengymnasiums. Das alte Backsteinhaus der Schule ist mehr als 100 Jahre alt, aber in bestem Zustand. Die Schülerinnen tragen weiße Burkas und rote Kleider. Sie sitzen während des Unterrichts im Schneidersitz auf Teppichen. Beim Sport im Schulhof spielen sie Basketball. Hiroli ist stolz auf sie: "Wir haben das erste Mal eine Generation muslimischer Kinder erzogen, die jetzt reif ist für die Universitäten", sagt er. So müsse es weitergehen. Nur Ungebildete seien von Fanatikern manipulierbar. Nur Gebildete könnten im globalen Wettbewerb bestehen, sagt er. Auch er setzt auf Punes Bildungsboom. "Wir Muslime dürfen die Schuld nicht bei anderen suchen. Wir müssen den Wettbewerb annehmen", sagt Hiroli zum Attentat. Dabei klingt er allerdings nicht sorgenfrei. Die ersten Tatverdächtigen der Polizei sind Muslime aus Pune, die angeblich von der pakistanischen Terrorgruppe Laschkar-i-Taiba (LiT) ausgebildet wurden und in ihrem Auftrag das Attentat verübten. Die LiT soll auch hinter den Anschlägen auf Mumbai stecken.
Solomon Sopher will trotzdem keinen Muslim als Verdächtigen für das Attentat in Pune herausstellen. Er ist der Direktor der jüdischen Synagoge in Mumbai und Pune. Bis heute ist die große, von dem berühmten jüdischen Händler David Sassoon 1864 errichtete Synagoge in Pune eines der auffälligsten Gebäude der Stadt. Sie sieht aus wie eine englische Kirche, ihr Turm ist frisch rot gestrichen. Auch sie wird jetzt von Polizisten hinter Eisengittern bewacht. Am Telefon aus Mumbai aber versichert Sopher: Niemals seit dem Bau vor 146 Jahren wäre ein Anschlag auf die Synagoge verübt worden. Nie hätten Juden und Muslime in Pune ihre Probleme gewaltsam gelöst. "Pune war für uns immer eine friedliche, kosmopolitische Stadt. Wir haben auch heute keine Angst", sagt Solomon Sopher.
Sophers ist die jüdische Sicht. Aber auch Hindus und Muslime vertragen sich in Pune. Die letzten religiösen Unruhen in der Stadt liegen 37 Jahre zurück. "Zwischen Hindus und Muslimen in Indien gab es bis in die jüngste Zeit immer wieder Konflikte, aber nicht bei uns", sagt der hinduistische Kommunalpolitiker Pravin Walimbe von der Kongresspartei. Er war Stammgast der Deutschen Bäckerei. "Sie war die beste Bäckerei der Stadt. Ich bete, dass sie bald wieder aufmacht", sagt Walimbe. Aber im Grunde zweifelt er nicht daran.
Alle - Badwe, Hiroli, Sopher, Walimbe - haben dieses unerschütterliche Grundvertrauen in ihre Stadt, ihre Geschichte der Toleranz und ihren neuen Fortschritt. Dabei schauen sie nicht genau auf ihre Polizisten. Sie denken nicht bis Pakistan. Sie haben auch keine Zeit für die Opfer vom Samstag. Sie spüren nur, wie sich Pune im Zeitraffertempo entwickelt. Fünfzehn Prozent Wirtschaftswachstum in den letzten Jahren. Null Krise. Größte Automobilstadt Indiens. Drittgrößte Softwarestadt nach Bangalore und Haidarabad. In keiner anderen Stadt Indien haben deutsche Firmen so viel investiert. Was kann dagegen ein Attentat ausrichten?
Nicht weniger unbeteiligt fühlen sich die Anhänger des Gurus Osho im Koregaon Park. Ihr luxuriöses Meditationszentrum mit Hotel, Park, Seen und Konzertsaal liegt nur fünfhundert Meter vom Tatort entfernt. Es zieht jedes Jahr 20.000 Besucher aus 120 Ländern an, darunter ein paar tausend Deutsche. Sie tragen vor Ort nur ihre roten Kutten. Aber auch ein kürzlich in den USA verhafteter, mutmaßlicher LeT-Kundschafter besuchte im Sommer 2008 das Osho-Zentrum. Seit man das weiß, gilt das Zentrum wie die Synagoge als mögliches Ziel einer Terrorattacke. "Wir sind so auffällig", erklärt sich Amrit Sadhana, die Managerin des Zentrums, das Interesse der Terroristen. Aber macht sie sich deshalb Sorgen? Natürlich nicht. "Im Osho leben wir im Hier und Jetzt", sagt Sadhana. Im Hier und Jetzt der Boomstadt Pune, in der nur noch wenige an den vergangenen Samstag denken.
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