Publikum spielt mit: Das eigene Leben als Drama

Menschen, die arm sind trotz Arbeit, entwickeln im Saalbau Neukölln aus ihren Erfahrungen ein "legislatives Theaterstück". Dabei soll das Publikum entscheiden, wie den "Working Poor" geholfen werden kann.

Jeden Morgen, wenn sie zur U-Bahn geht, um zur Arbeit zu fahren, sitzt da dieser Bettler. Kauert am Boden und möchte Geld haben. Ohne, dass er irgendetwas dafür tut. Sie hat ihm noch nie etwas gegeben. Wovon auch? Außerdem macht er sie wütend. Er verdient wahrscheinlich gar nicht viel weniger als sie selbst, denkt sie manchmal. Obwohl sie arbeitet. Tag für Tag. Sie kann in diesen Momenten fast aggressiv werden. Bis sie nach einer Weile beginnt, sich über sich selbst zu ärgern und zu schämen für den unsinnigen Hass auf diesen armen Menschen. Dann wird sie noch viel wütender. Nicht auf den Bettler, nicht auf sich selbst, sondern auf die Situation, die die Wut in ihr wachsen lässt wie ein Geschwür. Sie hat seit Jahren endlich wieder eine feste Stelle. Aber das Gehalt ist so niedrig, es reicht einfach nicht.

Clara Braun* läuft in Jeans und Kapuzenpulli über den stumpfen Parkettboden in dem Saal des Kreuzberger Nachbarschaftshauses. Hin und her. An der Wand hängen bunte Porträts aus einem Kunstkurs. Am Boden sitzt Hertha Müller* und spielt den Bettler. Braun schimpft auf sie ein. Während sie auf und ab geht, schaut sie immer wieder nach unten. Es soll wie dieser Morgenhass aussehen und so sieht es auch aus. "Das kann doch nicht sein", ruft sie und schüttelt den Kopf. Dann ist die Szene zu Ende. Alle klatschen und johlen. Braun lächelt still und setzt sich zu den anderen in den Stuhlkreis. Sie alle sind das, was man "Working Poor" nennt. Sie arbeiten als Freiberufler, Call-Center-Agenten oder 1-Euro-Jobber - und verdienen zu wenig, um davon zu leben. Aus ihren Erfahrungen machen sie nun ein Theaterstück.

Armut schürt Hass

Am 15. und 16. April wird es im Saalbau Neukölln aufgeführt. Harald Hahn und Jens Clausen haben das Projekt initiiert. Sie sprechen von "legislativem Theater". Eine Kunstform, die der brasilianische Regisseur Augusto Boal erfunden hat. Die Unterdrückten der Gesellschaft sollen sich so äußern können, indem sie ihr Leben spielen und mit dem Publikum darüber diskutieren. Das Legislative daran: Ganz konkret soll es darum gehen, welche Gesetze an der Lage schuld sind und was sich daran ändern ließe. Wenn Clara Braun am heutigen Dienstagabend im Saalbau Neukölln auftritt, werden zu den Zuschauern, die sich beteiligen, auch zwei Politiker zählen: die Bundestagsabgeordnete Katja Kipping, die stellvertretende Vorsitzende der Linkspartei, sowie Wolfgang Wieland von den Grünen. Es waren auch Abgeordnete von SPD und CDU eingeladen. Die allerdings haben mehr oder weniger kurzfristig abgesagt. "Da war ich schon sehr enttäuscht", sagt Hahn.

Er läuft aufgekratzt durch den Übungsraum mit den hohen Decken und den mächtigen Kronleuchtern. Nach der Bettler-Szene steht er vor der Gruppe und will wissen, welchen Titel sie bekommen soll. Seine Stimme überschlägt sich immer wieder ganz leicht. Er wiederholt die Vorschläge: "Bettelarm", "Auf den Hund gekommen". "Betteln rentiert sich", krakeelt eine Raucherstimme aus der Ecke. Hahn hält kurz inne: "Nee, rentiert sich das?" Nur ein Witz, sagt die Frau. Clara Braun möchte noch etwas sagen. Falls das gerade nicht ganz klar geworden sei: "Es geht darum, dass selbst in der untersten Gruppe Hass geschürt wird."

Braun ist 37 Jahre alt und eigentlich keine, die schimpft oder wettert. Gerade deshalb hat sie das "Working Poor"-Projekt interessiert. Eine gute Gelegenheit, auf Missstände aufmerksam zu machen. Sie selbst arbeitet in einem Call-Center. Um die 150 Anrufe macht sie am Tag. Es ist eine halbe Stelle und sie verdient damit weniger als 900 Euro brutto. Ein Sozialticket von der BVG oder eine GEZ-Befreiung bekommt sie trotzdem nicht. So zumindest spielt sie das in ihrer Szene. Ein Beamter sagt ihr, da sei nichts zu machen. Sie solle mal froh sein, dass sie mit ihrem Einkommen Lebensmittel von der Berliner Tafel bekommt.

Die Lebensausschnitte haben sie sich zusammen ausgedacht. Zuerst haben sie sich zu zweit, später in Vierergruppen, Geschichten erzählt, die mit der Arbeitsarmut zusammenhängen. Es ging um 1-Euro-Jobber, die sich wie austauschbare Lakaien fühlen, oder um die angespannte Stimmung in Call-Centern. Braun sagt, dass sie in ihrem noch ganz zufrieden sein kann. Bekannte würden schlimme Dinge erzählen von ständigen Rausschmiss-Drohungen, etwa, wenn die Quoten nicht erfüllt werden. Clara Braun hat während der Übungen auch schon einen Call-Center-Chef dargestellt. Es hat sich irgendwie gut angefühlt, durch die Reihen zu gehen, hier eine Rüge zu verteilen und da einen Tadel. Nein, auf die Toilette geht es jetzt nicht!

Es koste sie keine Überwindung zu spielen, sagt Braun. Sie hat früher als Marketing-Frau gearbeitet und dabei das Sprechen vor Publikum gelernt. In ihrem Wortschatz finden sich noch Spuren aus dieser Zeit. Die ganze "Working Poor"-Aktion ist für sie "ein bisschen was Proaktives". So nennen das PR-Leute, wenn sie eine Sache anpacken und möglichst positiv verkaufen, damit sie nicht anderen die Deutungshoheit darüber überlassen. In diesem Stück geht es um die Deutung von Biografien. Darum, was es heißt, alles zu geben und dafür nichts zu bekommen.

Das Wichtigste sei es, Vertrauen zu schaffen, findet Organisator Hahn. Schließlich sollen sich die Leute sehr persönliche Geschichten erzählen und manche davon später sogar auf die Bühne bringen. Sie machen viele Übungen. Tun gemeinsam so, als würden sie an einem Seil ziehen. Purzeln auf den Boden und wälzen sich durch die Gegend. Verdrehen sich gegenseitig in die absurdesten Stellungen hinein. Und jedes Mal, wenn eine Szene aufgeführt wurde, klatschen sie erst auf die Oberschenkel, immer schneller, und zuletzt in die Hände: drei Mal. Sie wirken sehr locker dabei. Man fühle sich sofort eingebunden, sagt ein Mann im schwarzen T-Shirt, auf dem vorne "Du sollst nicht töten" und hinten "Du wirst umgebracht" steht. Dieses Eingebundensein sei für ihn ganz wichtig. Das geht auch vielen anderen so. Sie verlieren hier dieses Loser-Stigma.

Hahn ist vor einiger Zeit einmal auf eine Montagsdemo gegangen, erzählt er, wo hunderte gegen Hartz IV protestierten. Viele seiner Bekannten wollten nicht mitkommen, weil sie Angst hatten, "als Verlierer tituliert zu werden", erinnert er sich. Insofern ist dieses Stück auch ein politisches Statement. Es holt die Arbeitsarmen ans Licht der Öffentlichkeit. Sie stimmen keinen Jammerchor an, sondern setzen sich recht selbstbewusst mit ihrer Situation auseinander. Der Humor, der zwischendurch in den Szenen aufblitzt, ist manchmal sehr schwarz und richtet sich oft gegen die Beamten, denen angeblich ständig die Hände gebunden sind. Die Formulierung taucht immer wieder auf.

Ideen für neue Gesetze

Die Aufführung soll ein differenziertes Bild liefern, sagt Hahn. Ganz wichtig sind die rechtlichen Fragen. Das Ziel ist für ihn klar: Die Erkenntnisse des Abends sollen die Abgeordneten in den Bundestag mitnehmen. Die Theatermacher hoffen auf Initiativen, auf Gesetzesänderungen. Auch wenn die Reaktion von CDU und SPD sie etwas skeptisch gestimmt hat. Vielleicht habe man dort Angst, an die Wand gespielt zu werden.

Carla Braun verspricht sich von dem Aufführungsabend nicht besonders viel. Sie verspüre auch keine Wut auf "die da oben", sagt sie. Dafür sei ihre Sicht zu "ganzheitlich". Sie war selbst einmal politisch aktiv. In der FDP. Nein, der Wirtschaftsliberalismus sei nicht für ihre Situation verantwortlich. Das Geschimpfe auf "die Neoliberalen" kann sie gar nicht vertragen.

In der Abschlussrunde sitzt sie still bei den anderen. Harald Hahn und Jens Clausen kündigen an, dass sie aus dem ganzen Material jetzt das Stück zusammenstellen werden. Dann stehen alle auf, stellen sich hintereinander und klopfen sich gegenseitig ganz leicht auf Schulter und Rücken: "Das hast du gut gemacht." Sie sehen dabei sehr gelöst aus. Sie hören das sonst nicht oft.

* Namen geändert

15. und 16. April, Saalbau Neukölln, Karl-Marx-Str. 141, Eintritt: 3 Euro

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Jahrgang 1980, ist Redakteur der taz.am wochenende. Er betreut dort die Titelgeschichten. 2010 ist sein Buch „Generation Porno“ erschienen. 2013 wurde er mit dem Arthur F. Burns-Award ausgezeichnet.

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