Psychologin über Situation an den Unis: „Studierende in ihrem Kinderzimmer“
Nina Müller berät Studierende mit psychischen Problemen. Sorgen machen die sich nicht nur um Prüfungen, sondern vor allem um die Zukunft.
taz am wochenende: Erst Pandemie, jetzt auch noch Inflation und steigende Energiekosten. Den Studierenden steht ein harter Winter bevor. Mit welchen Sorgen kommen Sie zu Ihnen in die Beratung, Frau Müller?
Nina Müller: Inflation und Energiekrise kommen so explizit noch nicht in unseren Gesprächen vor. Das wird sich sicher im Laufe des Winters noch ändern, wenn sich die Situation weiter zuspitzt. Aber wir bekommen natürlich mit, dass sich die Studierenden über die aktuellen Krisen viele Gedanken machen, auch über die Ukraine oder die Zukunft des Klimas. Manche entwickeln Angststörungen oder leiden unter depressiven Verstimmungen. Studierende kommen auch wegen Prüfungsängsten oder Beziehungsschwierigkeiten zu uns in die Beratung.
Wie viele kommen wegen existenzieller Sorgen?
Wer existenzielle Sorgen hat, wendet sich eher an unsere Kolleg:innen von der Sozial- und Finanzierungsberatung. Die haben in der Pandemie sehr viel aufgefangen, als Nebenjobs weggebrochen sind und Überbrückungshilfen notwendig wurden. In unseren Gesprächen geht es aber ganz viel um die Zukunftsängste der Studierenden. Schaffe ich die Prüfung? Was mache ich nach dem Studium? Seit der Pandemie sind diese Ängste definitiv stärker zu spüren.
Der Generalsekretär des Deutschen Studentenwerks (DSW) Matthias Anbuhl sagte vor ein paar Tagen, früher seien Studierende wegen Prüfungsängste gekommen, heute kommen Sie wegen exisitentieller Ängste. Sehen Sie das auch so?
So würde ich das nicht formulieren. Wer wegen einer wichtigen Abschlussprüfung Prüfungsängste entwickelt, hat gewissermaßen auch existenzielle Ängste. Für manche Studierende sind das existenzielle Krisen, das würde ich jetzt nicht abtun, weil es zurzeit – salopp gesagt – Schlimmeres gibt. Der Perspektivwechsel kann für die Studierenden zwar auch gut sein: Es ist jetzt kein Weltuntergang, wenn du durchfällst. Aber in dem Moment hilft das den Betroffenen nicht wirklich weiter. Sondern dass wir sie in ihren Sorgen ernst nehmen.
Neben Lebensmitteln und Gaspreisen steigen auch Mieten rasant. In Frankfurt kostet ein WG-Zimmer mittlerweile im Schnitt 580 Euro, nur München ist noch teurer. Löst diese Entwicklung nicht auch Zukunftsängste aus?
Frankfurt war schon immer ein teures Pflaster. Und ja, für viele Studierende ist es noch schwerer geworden, die Miete bezahlen zu können. Das Thema kommt bei uns aber eher am Rande zur Sprache. Wir haben aber erlebt, dass viele Studierende in der Pandemie zu ihren Eltern zurückgezogen oder gar nicht dort ausgezogen sind. Dann sehen wir die Studierenden in der Onlineberatung in ihren Kinderzimmern. Für die Studierenden ist das natürlich auch nicht immer optimal. Und wir kriegen auch mit, dass es schwerer geworden ist, heute überhaupt ein WG-Zimmer oder einen Wohnheimplatz zu bekommen.
In der Pandemie sind Studierende vereinsamt, die psychische Belastung war für viele sehr groß. Ist das immer noch ein Thema in Ihren Beratungen?
Definitiv. Was wir oft hören in den Beratungsgesprächen ist: Wie finden wir wieder Anschluss? Gerade für die, die während der Pandemie nach Frankfurt gezogen sind, ist das sehr schwer, neue Kontakte zu schließen. Wenn dann noch Ängste oder Schüchternheit dazukommen, wird es nicht einfacher. Die Einsamkeit und die Schwierigkeiten bei sozialen Kontakten wirken immer noch nach. Diese Personen fühlen sich vom Studierendenleben ausgeschlossen und wissen nicht, wie sie das ändern können.
Wie können Sie diesen Menschen helfen?
Gerade zu Beginn waren wir natürlich selbst herausgefordert. Wir haben versucht, möglichst viel über Onlineformate zu ermöglichen. So hatten wir eine Gruppe zu Prokrastination, die sich Online vernetzt hat. Gerade hatten wir ein Vortrag zu ADHS, wo wir gemerkt haben: Die Studierenden haben große Lust, sich zu begegnen. In der Pandemie waren die Studierenden auch kreativ, haben Zoom-Spieleabende veranstaltet. Das ersetzt natürlich nicht den physischen Kontakt miteinander. Jetzt ist die Situation wieder entspannter: Man merkt, dass die Studierenden wieder am Leben teilnehmen wollen. Dennoch fällt es manchen schwer, nach der langen Isolation Anschluss zu finden.
Studien zeigen, dass Studierende überdurchschnittlich von psychischen Erkrankungen betroffen sind. Verstärkt die Dauerkrise das jetzt noch weiter?
Das ist schwer einzuschätzen. Wir können aber bestätigen, dass psychische Krankheiten unter Studierenden verbreitet sind. Etwa die Hälfte, die zu uns kommt, spürt einen erheblichen psychischen Druck. Das heißt, diese Personen brauchen eigentlich nicht nur eine Beratung, sondern eine psychotherapeutische Begleitung oder Therapie. Die Dauerbrenner hier sind beispielsweise depressive Verstimmungen, psychosomatische Beschwerden, Angststörungen. Mein Eindruck ist aber auch, dass die Studierenden besser als früher mit diesen Themen umgehen. Vielleicht hat die Pandemie hier geholfen, weil die Gesellschaft offener über psychisches Leid gesprochen hat – und entsprechende Hilfsangebote dadurch erst sichtbar gemacht hat. Es ist nicht mehr so stigmatisiert, zu uns zu kommen.
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Kommen heute mehr Studierende in die Psychosozialberatung?
Wir bieten die Beratung erst seit acht Jahren an. Aber in der Zeit haben die Anfragen stetig zugenommen. Zu Beginn der Pandemie sind unsere Anfragen erst mal zurückgegangen. Was nicht verwundert, weil vielen gar nicht klar war, wohin sie sich eigentlich wenden können. Im zweiten Pandemiejahr – 2021 – hatten wir dann aber so viele Anfragen wie noch nie. Alleine 540 neue Anfragen. Dazu kommen noch die Personen, die wir schon länger begleiten. Viele Studierende begleiten wir über Monate, im Schnitt kommen sie um die fünf Mal zu uns. Ich rechne damit, dass 2022 ein neuer Rekord wird. Früher hatten wir in den Semesterferien kaum Andrang. Das ist nun vorbei.
35, leitet die Psychosozialberatung beim Studierendenwerk Frankfurt am Main. Die Psychologin macht aktuell noch eine Ausbildung zur Psychotherapeutin.
Wie gut können Sie bei der hohen Nachfrage auf die Sorgen Einzelner eingehen?
Wir sind vier Psycholog:innen im Team, aber alle mit Teilzeitstellen. Wir kommen langsam an unsere Kapazitätsgrenzen. Wir versuchen natürlich, allen gerecht zu werden. Wenn jemand akut einen Platz für eine Psychotherapie sucht, begleiten wir die Person auch so lange, bis sie einen Platz gefunden hat. Auch wenn das Monate dauert. Wir bieten auch offene Sprechstunden an, wo man ohne Termin hinkommen kann. Aber wir merken, dass die Wartezeiten bei uns länger werden. Gott sei Dank noch nicht so lang wie bei privaten Psychotherapeut:innen, wo man monatelang auf einen Termin warten muss. Trotzdem ist es nicht gut, wenn wir Menschen, die akut Hilfe benötigen, erst in zwei oder drei Wochen den nächsten Termin anbieten können. Das war vor der Pandemie leichter. Die Arbeit hat sich bei uns definitiv verdichtet.
Bräuchte es Ihrer Meinung nach mehr Beratungsangebote?
Die Nachfrage ist da.Wir haben das Glück, dass auch einige der von uns betreuten Hochschulen eine Psychosozialberatung anbieten. Es kommen also nicht alle zu uns. In anderen Städten schultern die Studierendenwerke aber die ganze Beratung. Ich kann nur dafür werben, die Angebote dem Bedarf anzupassen. Man darf auch nicht vergessen, wie die gesellschaftliche Stimmung derzeit ist. Finanzkrisen sind immer auch ein Motor für psychische Krisen. Präventionsangebote, die die persönlichen Krisen frühzeitig abfangen, werden deshalb noch wichtiger.
Wie wissen Sie eigentlich, ob Sie Studierenden tatsächlich helfen konnten?
Manchmal kommen Studierende nach einer Weile wieder in die Beratungsstelle und sagen: Das Gespräch hat mir gutgetan, ich würde das gerne noch einmal wahrnehmen. Manchmal teilen uns die Personen mit, dass sie gut bei einer Psychotherapeutin angekommen sind.
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