Psychologin über Augenkontakt: „Der Blick bringt uns nah“
Wir haben ständig Augenkontakt – und trotzdem wissen wir kaum, was er alles mit uns anstellt. Ein Gespräch übers Erkennen, Starren und Verlieben.
taz: Frau Böckler-Raettig, warum pflegen wir Kontakt über die Augen?
Beim Blickkontakt treffen wir uns auf eine Art, wie wir uns sonst selten treffen. Wenn wir Blickkontakt haben, sind wir gleichzeitig aktiv und passiv, wir sind Schauende und werden selbst angeschaut. Wir erfahren etwas über unser Gegenüber und geben gleichzeitig Informationen über uns preis – manchmal auch welche, die wir vielleicht gar nicht preisgeben wollen. Manchmal interpretiert unser Gegenüber eventuell ein Gefühl in unserem Blick, das wir gar nicht haben. Der zentrale Aspekt ist, dass wir Emotionen besser erkennen, und weil Menschen visuelle Tiere sind, sind Augen gute Kanäle, um Veränderungen wahrzunehmen.
Die wären?
Seit 2021 ist die promovierte Psychologin Professorin für Forschungsmethoden & Soziale Kognition an der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg
Tränen in den Augen wäre ein Beispiel. Die Tränen des anderen stecken uns an, und das nimmt wiederum unser Gegenüber wahr. Das ist sehr berührend für die weinende Person, weil sie merkt, dass ihre Trauer gesehen wird. Der Blickkontakt löst also einen Spiegeleffekt aus: Wir erkennen kleine Veränderungen im anderen und spiegeln sie. Diese schnelle Rückkopplung erlaubt einen sehr engen Kontakt.
Was heißt das für Menschen mit einer Sehbehinderung?
Viele Wege führen nach Rom, und das gilt auch für soziale Nähe. Menschen, die nur eingeschränkt oder gar nicht sehen können, sind in unserer visuellen Welt durchaus benachteiligt. Aber Visualität ist auch kompensierbar, zum Beispiel durch Berührung oder Akustik. Wenn ich zittere und der andere spürt das durch eine Berührung, oder wenn ich etwas Persönliches von mir erzähle, erzeugt das auch Nähe. Wir ersetzen also Kanäle, die wir nicht haben.
Kann man sich durch intensiven Blickkontakt verlieben?
Blickkontakt ist nicht zwingend notwendig, um sich zu verlieben. Zum Verlieben braucht es etwas, was uns gefällt, zum Beispiel eine Reaktion, die wir sympathisch finden. Ebenso können wir uns in Menschen verlieben, die wir nur am Telefon gehört haben oder von einem Foto kennen. Aber Blickkontakt ist ein tolles Mittel, um exklusive Aufmerksamkeit auf jemanden zu richten.
Telefonate können keine exklusive Aufmerksamkeit erzeugen?
Doch, natürlich. Aber wir können nicht ausschließen, dass die Person gerade durch Hintergrundgeräusche abgelenkt ist oder sich nebenbei die Nägel macht. Die Augen sind ein sehr guter Kanal für Aufmerksamkeit, sie richtet nämlich den Fokus nur auf mich. Das ist eine Zugewandtheit, die Interesse zeigt, die schön ist, und sich gut anfühlt.
Blickkontakt ist nicht immer schön, es kann auch eine aggressive Wirkung haben.
Das stimmt, Starren ist ein dominantes Signal. Wenn man in einer Situation ist, in der man nicht weggehen kann, wird ein langer Blick auf uns auch unangenehm.
Wann ist es sinnvoll, den Blick abzuwenden?
Der Blick bringt uns dem anderen unmittelbar nah. In einer Situation, in der wir nicht weg können, kann uns das zu viel werden – auch wenn es nicht unbedingt eine Bedrohung ist. Den Blick abzuwenden kann dem Gegenüber auch Raum geben. Zum Beispiel ist Wegschauen völlig in Ordnung, wenn uns jemand etwas sehr Persönliches oder Trauriges erzählt. Es wirkt sogar empathischer, denn Blickkontakt schafft Nähe, und manchmal braucht ein Gegenüber davon etwas weniger.
Warum fühlen wir uns besser, wenn wir den Blick abwenden, selbst wenn uns unser Gegenüber weiter anstarrt?
Wenn wir den Blick abwenden, füllt das Starren des anderen nicht mehr so unmittelbar unser ganzes Blickfeld aus. Wir können etwas in den Blick nehmen, das uns beruhigt oder zumindest weniger bedroht. Und wir können unsere eigenen Regungen, unsere Gefühle besser vor dem Blick des anderen verbergen, wenn wir wegschauen. Wir haben quasi einen Riegel vor uns geschoben.
In bestimmten Situationen sagen Eltern zu ihren Kindern, dass sie gewisse Menschen nicht allzu lange anstarren sollen.
Es entspricht nicht der sozialen Norm, Leute anzustarren, besonders Leute, denen wir eine Minderheitenrolle oder eine vulnerable Position zusprechen. Also zum Beispiel sagen Eltern ihren Kindern, dass sie Menschen mit Behinderung nicht anstarren sollen. Ähnlich bei obdachlosen Menschen.
Womit hat es zu tun, wenn wir vulnerable Menschen nicht intensiv anschauen sollen?
Weil Blicke auch übergriffig sein können. Wir bringen Kindern bei, anderen Menschen nicht zu nahe zu treten. Und wir nehmen bei bestimmten Menschengruppen an, dass ihnen Dritte sowieso schon zu oft zu nahe treten, und wollen ihnen das ersparen.
Es ist also kein Wegschauen im Sinne von „wir wollen nichts mit ihnen zu tun haben“?
Es gibt bestimmt auch Leute, die sagen, dass sie mit gewissen Menschen nichts zu tun haben wollen. Aber das ist zumindest nicht die soziale Norm. Soziale Normen beziehen sich darauf, was sich gehört und was nicht. Und in unserem Kulturkreis gehört es sich eher nicht, Menschen anzustarren, die Merkmale haben, die sie in unseren Augen vulnerabel machen.
Von welchem Kulturkreis reden Sie denn?
Ich kann hier ausschließlich für Deutschland sprechen.
Haben Kulturen mit weniger Körperkontakt automatisch weniger Blickkontakt?
Zumindest haben Forschungsteams in Japan herausgefunden, dass dort weniger Blickkontakt mit Fremden herrscht. Das zeigt auch, dass Kulturen Normen stark prägen können.
Das heißt dann ja, dass wir Blickkontakt im Laufe der Jahre an- oder abtrainieren. Warum starren eigentlich Kleinkinder ihr Gegenüber so lange an?
Kinder schauen durchaus auch weg, vor allem, wenn die entsprechende Person sie ebenfalls anschaut – weil sie dann unmittelbar spüren, wie unangenehm das sein kann. Sie merken dann auch, dass es Scham induzieren kann. Jugendliche spielen mit solchen starken sozialen Reizen auch Spielchen. Zum Beispiel starren sie diejenigen besonders lange an, die schüchtern sind. Dieses Verstehen, dass meine Handlungen für die andere Person Konsequenzen haben kann, ist im Jugendalter noch nicht so stark ausgeprägt.
Warum macht es uns Angst, wenn wir Tote mit offenen Augen sehen?
Die Frage kann ich nur spekulativ beantworten. Aber das, was uns am meisten Angst macht, sind Dinge, die unsere Erwartungen brechen. Ein böser Clown wäre ein Beispiel – wir erwarten Humor und bekommen aber etwas ganz anderes.
Auf Augen übertragen hieße es dann …
Augen sind der Inbegriff des Belebten und des Kontakts. Tote Augen sind genau das nicht, sie zeigen nicht das, was wir von Augen erwarten. Trotzdem sehen sie aus wie vorher. Dieser Kontrast ist das, was Angst auslösen kann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl
Preise fürs Parken in der Schweiz
Fettes Auto, fette Gebühr