Psychologe zu Empathie: „Nichts leichter als Fettnäpfchen“
Schon lange beschäftigen sich Forscher:innen mit der Frage, wie Kinder lernen, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Fehler dürfen sein.
taz: Herr Osterhaus, Sie haben eine entwicklungspsychologische Studie mit Grundschulkindern durchgeführt. Was wollten Sie herausfinden?
Christopher Osterhaus: Es gibt in der Forschung unterschiedliche Ansichten dazu, was es braucht, um das Handeln anderer Menschen zu verstehen. Das war auch der Grund für die Studie – wir wollten besser verstehen, wie Kinder eigentlich genau lernen, sich in andere hineinzuversetzen.
Was unterscheidet dieses Lernen vom klassischen schulischen Lernen?
Das Einmaleins ist etwas, was man einfach abrufen kann. Beim sozialen Verständnis reicht es aber nicht zu wissen, dass Leute sich im Allgemeinen auf eine bestimmte Art und Weise verhalten, sondern man muss auch erkennen, in welchen konkreten Situationen dieses Wissen relevant ist.
Gab es Ergebnisse Ihrer Studie, die Sie so nicht erwartet hätten?
Uns hat überrascht, dass einige Aspekte der Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, scheinbar auf unterschiedlichen Prozessen beruhen. Einige erfordern eher ein Nachdenken über die Situation, während es für andere auszureichen scheint, dass man seine Umwelt im Blick behält. Zu erkennen, dass jemand in ein Fettnäpfchen tritt, ist zum Beispiel etwas, das fast schon automatisch abläuft.
Haben Sie eine Erklärung für dieses intuitive Gefühl für Fettnäpfchen?
Wir wissen noch nicht genau, warum sich dieser Prozess von anderen unterscheidet. Auch im Alter erkennen Menschen Fettnäpfen weiterhin ohne große Probleme, während andere Aspekte im Verständnis anderer mit der kognitiven Leistung abnehmen. Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass wir mehr oder weniger automatisch kontinuierlich prüfen, inwiefern sich unsere Mitmenschen erwartungskonform verhalten oder eben soziale Regeln brechen – etwa, indem sie in ein Fettnäpfchen treten.
Welche Rolle spielt die Intelligenz – ein Begriff, der pädagogisch viel diskutiert wird?
Dazu muss ich vorwegschicken, wie wir die Intelligenz der Kinder erfasst haben, nämlich als die Fähigkeit für schlussfolgerndes Denken. Das ist relevant, weil man davon ausgeht, dass Kinder eine Art Theorie über menschliches Verhalten entwickeln, die sie nutzen, um sich in andere hineinzuversetzen und ihr konkretes Verhalten zu erklären. Die Kinder, die besser im schlussfolgernden Denken sind, so vermuten wir, sind auch besser darin, diese Theorien zu entwickeln. Interessant ist, dass dies aber wiederum nicht für das Erkennen von Fettnäpfchen gilt.
Christopher Osterhaus, 37, ist Juniorprofessor für Entwicklungspsychologie an der Universität Vechta und zusammen mit Susanne Koerber Autor der Studie.
Kann es sein, dass Kinder während der Pandemie jetzt ein paar Jahre länger brauchen werden, um das Verhalten anderer zu verstehen, als vor zwei Jahren?
Wir mussten die Studie zu Beginn der Pandemie leider abbrechen, weil wir zu wenige Kinder zu Hause erreicht haben, um valide Aussagen zu machen. Die Vermutung liegt aber nahe, dass mangelnder Sozialkontakt auch zu einem Mangel an Lernerfahrungen führt. Gerade Grundschüler:innen haben dabei noch weniger Kompensationsmöglichkeiten als ältere, die über soziale Netzwerke zumindest virtuell miteinander im Kontakt sind. Deshalb arbeiten wir gerade an Förderprogrammen, die Lehrkräfte an Grundschulen leicht umsetzen können.
Wie sehen die aus?
Es reicht schon, Geschichten zu erzählen, in denen jemand eine Situation falsch interpretiert, und mit den Kindern darüber zu sprechen. Das klingt einfach, scheint aber deutliche Effekte zu haben. Wichtig ist Geduld, denn Kinder verstehen vieles, aber nicht alles. Man sollte da-rauf achten, dass sie dabei die richtigen Wörter benutzen, damit sie bestimmte Verhaltensweisen nicht nur verstehen, sondern auch in Worte fassen können.
Haben Sie in Ihrer Studie auch die unterschiedlichen Muttersprachen von Kindern berücksichtigt?
Wir haben abgefragt, ob die Kinder eine Migrationsgeschichte haben, in der konkreten Studie konnten wir dazu aber keine verallgemeinerbaren Erkenntnisse sammeln. Andere Studien kommen zu dem Ergebnis, dass Kinder mit Migrationshintergrund in Tests, bei denen sie sich in andere hineinversetzen müssen, tendenziell schlechter abschneiden. Dieser Befund scheint vor allem auf Unterschieden in der Sprachkompetenz zu basieren. Bei Studien wie unserer, die sehr sprachlastig sind, muss man diesen Aspekt natürlich berücksichtigen.
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