Psychoanalytikerin über Sexualitäten: „Viagra ist eine Prothese“
Die Geschlechterforscherin Ilka Quindeau glaubt nicht an Homo oder Hetero. Ein Gespräch über rosa Spielzeug und die innere Genitalität des Mannes.
taz.am wochenende: Frau Quindeau, spielt das Geschlecht für Sie eine Rolle bei der Auswahl Ihrer Patient*innen?
Ilka Quindeau: Ja, nicht nur unbewusst. Ich weiß natürlich um die Bedeutsamkeit des Geschlechtlichen.
Wie bewusst?
Ich versuche in meinem Nachdenken über Menschen Geschlechterkategorien immer wieder zu hinterfragen und in der Tendenz auch aufzulösen. Aber egal, in welchen Kontexten, ob an der Uni oder in der Therapie: Das Geschlecht spielt eine zentrale Rolle in unserer Gesellschaft.
Inwiefern?
Ich stelle in meiner Arbeit mit Patient*innen fest, wie überfordert sie von den rigiden Geschlechternormen sind. Beruflich engagierte junge Frauen halten sich für Rabenmütter, wenn sie nicht mindestens ein Jahr nach der Geburt ihrer Kinder zu Hause bleiben. Und junge Männer meinen nach wie vor, dass sie das Geld für die Familie verdienen müssen. Wenn sie das nicht tun, halten sie sich für Versager.
Ganz wie früher – hat sich also nichts verändert?
Mir fallen zwei diametral entgegenlaufende Bewegungen auf. Auf der einen Seite kann man sehen, dass sich die Geschlechternormen angeglichen haben und größere Freiheit für die Einzelnen zu beobachten ist. Auf der anderen Seite spielt die Geschlechterdifferenz mehr denn je eine Rolle.
Können Sie uns Beispiele nennen?
Es gibt heute kaum noch eine Schwangere, die nicht weiß, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen erwartet. Und in Spielzeugläden gibt es inzwischen schon für Säuglinge blaues und rosa Spielzeug.
Ist das in unseren schönen, politisch korrekten Kreisen ebenfalls so?
Dort auch, klar. Als unsere Kinder klein waren, vor 20 Jahren, war das noch nicht so.
Früher war alles besser?
Nein, aber in den sechziger Jahren – zumindest, was die frühe Kindheit betrifft bis zur Adoleszenz – sind die Unterschiede zwischen Mädchen und Jungs deutlich geringer gewesen. Kinder haben zusammen gespielt. Und es war möglich, dass Jungs die Pullis und Hosen der großen Schwester aufgetragen haben.
Ungern, sagt mir meine Erinnerung.
Vielleicht, aber schon vor 20 Jahren war das kaum noch möglich. Jetzt ist es völlig undenkbar. Interessant finde ich vor allem, dass die Frage der Geschlechterrollen damals viel enger gefasst war. Ich stelle zwei widersprüchliche Bewegungen, die nebeneinander existieren, fest.
Die wären?
Einerseits sucht man starke Eindeutigkeit. Rosa und Blau. Andererseits ist es möglich, dass eine so mit den Geschlechtern spielende Figur wie Conchita Wurst unglaublich populär ist.
Könnte das auch mit den moralischen und materiellen Beutezügen von Frauen- und Schwulenbewegung zu tun haben? Denen zugehört wird – und von deren Wünschen nach Geschlechterzwiespältigkeit man sich zugleich entfernen möchte?
Das könnte sein, die Ambiguität ist faszinierend und bedrohlich zugleich. Die Verunsicherung nimmt zu. Das ist ja nicht nur mit dem Blick auf das Geschlecht so, das ist im Blick auf Klimawandel oder die Flüchtlingsfrage auch so. Klarheit und Orientierung verschwimmen. Wenigstens das Geschlecht soll noch Orientierung bieten. Man möchte ganz klar sagen können: Das ist ein Mann, das eine Frau.
Person: Geboren 1962 in Duisburg. Deutsche Soziologin, Psychologin und Psychoanalytikerin (DPV/IPV). Sie ist Lehranalytikerin und Professorin für Klinische Psychologie an der FH Frankfurt. Verheiratet, zwei Kinder.
Wirken: Psychoanalytische Theoriebildung sowie Geschlechter- , Trauma- und Biografieforschung. Sie entwarf eine psychoanalytische Genealogie der Sexualität und wendet sich gegen Heteronormativität.
Spiegeln sich diese Tendenzen in Ihrer, der psychoanalytischen Disziplin? Wird überliefert, dass besonders Männer berichten, mehr als früher leisten zu müssen?
Neulich hörte ich aus meiner Disziplin von einem Patienten, der erzählte, dass Frauen neue Männer mögen. Und dass sie schätzen, wenn diese auch weinen können. Weil ihnen danach ist, nicht weil es erwartet wird.
Wie finden Sie denn Männer, die weinen?
Es ist immer wichtig, seinen Gefühlen Ausdruck geben zu können, ganz unabhängig vom Geschlecht.
Manche Frauen, hört man, befürworten das Ideal der tränenden Männer – aber mögen Männer, die weinen, trotzdem nicht. Sie sind ihnen zu weich.
Das zeigt, wie tief verankert die Geschlechternormen sind. Vielleicht habe ich doch zu sehr als Analytikerin geantwortet?
Sind Mütter Komplizinnen der Männer, die hart zu sein haben?
Ich glaube, ja. Vielleicht kann man das Paradox formulieren, dass Mütter sich die starken Söhne wünschen, die sie dann aber als Partner nicht wollten. Das Problem ist in der Tat, dass wir nicht einfach aussteigen können aus dieser alten Geschlechterordnung. Wir werden in sie hineinsozialisiert.
Ablegen lässt sich sie sich nicht?
Nein. Wir tragen alle das Gepäck der alten Ordnung in uns.
Sie schrieben einmal zur traditionellen Geschlechterordnung, nach der Männer und Frauen sich wie Nord- und Südpol gegenüberstünden – die Polkappen seien noch bepackt mit Eis, aber sie hätten zu schmelzen begonnen.
Ich will nicht allzu pessimistisch erscheinen, aber ich glaube, dass sich der Widerstand gegen das Schmelzen der Polkappen formiert hat, etwa in der Weise, dass ja allenthalben die Krise der Männlichkeit ausgerufen wird.
Die es gibt?
Die Rede davon ist für mich im Großen und Ganzen der Versuch, die alten Privilegien zu retten und zu festigen. Natürlich gibt es Jungen, die unter dem Schulsystem leiden. Aber Frauen verdienen nach wie vor für gleiche Arbeit 30 Prozent weniger. Das lässt sich eigentlich durch nichts rechtfertigen.
Der Männerforschung geht es doch nicht darum, die von Ihnen kritisierten Privilegien zu retten, sondern darum, herauszufinden, was das Männliche ist oder sein kann. Ist es nicht seltsam, dass vor allem Frauen zu Männern forschen?
Manche Kollegen finden das schwierig, wenn ich als Frau über Männlichkeit forsche, die das als Übergriff empfinden. Ich glaube aber, dass man nicht über Männer nachdenken kann, ohne Frauen mit einzubeziehen. Man kann ja auch sagen, dass sich Männlichkeit erst gegenüber von Weiblichkeit konturiert. Und umgekehrt. Und dann ist natürlich die Frage: Wofür braucht man das?
Was wäre das Ziel?
Dass die Kategorie Geschlecht überhaupt die Bedeutsamkeit verliert. Dass man sie nicht weiter mit dieser Macht gesellschaftlich forciert. Aber das ist das Gegenteil zu dem, was gerade in der Männerforschung passiert. Was man sehen kann, ist, dass die Differenz permanent in neurowissenschaftlicher Forschung Bestätigung sucht.
Sie meinen: diese bizarre Suche nach Nanoeinheiten in der Hirnforschung?
Es gibt viel Geld für diese Forschung – und sie ist hoch angesehen.
Ging das nicht schon bei der Suche nach dem sogenannten Schwulen-Gen schief?
Das sollte man denken. Aber es wird nach wie vor gesucht – weil man es gern finden würde.
Wissen wir wirklich eigentlich schon viel über das Männliche? Über das männlich Sexuelle?
Das Interessante weiß man nach wie vor nicht. Was mich nach wie vor interessiert, ist: Was ist der männliche Innenraum?
Erläutern Sie uns diese Gegend, bitte.
Ich spreche von der inneren, körperlichen Genitalität eines Mannes, die im unteren Bauchraum angesiedelt ist. Von der Fragwürdigkeit der Idee, dass die männlichen Genitalien im Wesentlichen außen verortet werden und nur die weiblichen innen. In den sechziger Jahren hat die amerikanische Psychoanalytikerin Judith Kestenberg viel hierzu gearbeitet. Sie hat deutlich gemacht, dass es eine Entwicklungsaufgabe in der Adoleszenz ist – für beide Geschlechter! –, das innere und das äußere Genitale zu einer Einheit zusammenzubringen.
Sie meinen die beim Manne vernachlässigte, hoch nervenumwirkte Prostata, die „gefördert“ werden soll – ein anal starker Faktor?
Es ist eben nicht anal, sondern genital. Dieser körperliche Ort ist auch eine kulturelle Leerstelle, die gefüllt werden muss. Dieser Innenraum wird auf Frauen projiziert und bleibt damit den Männern nicht selbst zugänglich. Das führt zu drastischen Einschränkungen. Zum Beispiel im sexuellen Erleben, aber dann eben auch im Bereich der Verantwortung für die Verhütung. Oder denken Sie an diese ganze Generativität, die da mit dranhängt.
Weiß man über Frauenkörper mehr als über den von Männern?
Deutlich mehr.
Wir wissen inzwischen, immerhin: Frauen spritzen beim Orgasmus auch ab.
Ja, über die weibliche Ejakulation gibt es einige Forschungen. Und zu Männern gibt es unglaublich viel Forschung zur Erektion, etwa zu den ganzen prothetischen Geschichten vor Viagra, Schwellkörperinjektionen und so weiter. Aber was die Prostata betrifft: nichts! Ist das nicht irrwitzig, wenn man sich mal anguckt, wie viele Prostatakrebserkrankungen es gibt? Männer gehen auch ganz wenig zur Vorsorge, und diese fehlende Selbstumsorge hat vor allem viel mit Unkenntnis oder Scham zu tun.
Verinnerlichte Homophobie, weil der anale Bereich mit Homosexuellem identifiziert wird?
Natürlich. Wie wichtig wäre es, dass man in dieser Hinsicht ein Bewusstsein schafft. Gynäkolog*innen sind selbstverständlich. Aber für Männer? Nichts. Urologen sind ja keine Andrologen. Dass es keinen Facharzt gibt, zu dem Jungen gleich in der Adoleszenz gehen können – und auf selbstverständliche Weise mit ihren reproduktiven Körperfunktionen in Kontakt gebracht werden: Das ist traurig. Das kann man nämlich als Mutter nicht leisten, als Vater vielleicht ein bisschen eher, doch ist es in diesem Bereich immer wichtig zwischen Eltern und Kindern, die Grenzen zu wahren.
Weshalb möchten Eltern nicht, dass ihre Kinder homosexuell sind?
Alle Eltern wünschen sich, dass ihre Kinder möglichst einfach durchs Leben kommen und nicht diskriminiert werden. Das ist nach wie vor leider nicht so als schwuler oder lesbischer Mensch.
Verlagern Sie den Konflikt nicht nach außen? Wollen Eltern nicht vor allem, dass ihre Kinder so werden, wie sie selbst sind – heterosexuell?
Dass man den unbewussten Wunsch hat, sich in den Kindern oder Enkelkindern unsterblich zu machen, das ist in der Tat eine psychoanalytische Annahme. Diese Fantasie ist natürlich dann auch zu Ende, wenn sich die Kinder gegen Kinder entscheiden …
Frau Quindeau, hat sich die Geschlechterordnung, jedenfalls in männlicher Hinsicht, durch Viagra geändert?
Absolut. Das Klischee lautet, dass es ein Mittel älterer Männer sei – aber, so höre ich es aus der Forschung, das stimmt nicht. Auch junge Männer sind permanent mit Viagra unterwegs, um Dauerbereitschaft zu performieren. Es klingt unglaublich: Dreißigjährige, die die Pille in der Tasche haben.
Warum tun sie das?
Um ihre Sexualität möglichst wenig störungsanfällig zu machen. Sie wollen sich unabhängig machen von den Frauen, nicht durch sie erregt werden, sondern die Erektion selbst herstellen. Eine Autonomie, die mit Medikamenten abgesichert wird.
Sie wollen vor der Frau nicht versagen?
Sie wollen sich nicht von der Frau stimulieren lassen, sie wollen sich selber stimulieren. Eigentlich ist ja die Idee des Sexuellen, dass man sich dem anderen überlässt – und dann guckt, was daraus wird. Das ist in der Performance mit Viagra nicht nötig. Sie wissen, dass sie das irgendwie alleine hinkriegen.
Die Sexualwissenschaftlerin Sophinette Becker nannte Viagra mal eine Art „Anschubfinanzierung“, um die Angst vor dem Versagen zu verlieren.
Das kommt dem sehr entgegen, aber es geht nicht nur um das Versagen, sondern um die Autonomie, die doch beim Sex eigentlich gerade aufgehoben werden kann.
Hat das auch was mit erotischen Bilderfluten aus dem Netz zu tun?
Zweifelhaft. Wenn Pornografie immer funktionieren würde, bräuchte man kein Viagra.
Vielleicht war die männliche Erektion nie so, wie man immer behauptet hat, dass sie sei.
Davon gehe ich aus, klar. Männer waren noch nie Maschinen und werden es auch nie sein. Viagra ist eine Prothese. Und das Bedürfnis nach ihr zeigt einfach, wie stark der Wunsch bei Männern internalisiert ist, im Bereich des Sexuellen zu genügen. Die Erwartungen sind offenbar groß. Und niemand scheint davon frei.
Wird die Zukunft heteronormativer oder queerer?
Sowohl als auch: Der Trend wird sich fortsetzen, dass die Geschlechterdifferenz einerseits an Bedeutung zunimmt und andererseits aber auch die sexuelle und geschlechtliche Vielfalt selbstverständlicher werden. Da bin ich zuversichtlich, dass diese Freiheiten und Ambiguitäten sich verteidigen lassen – aber auch verteidigt werden müssen.
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